„Wir sollten nicht hier sein, Aeryn“, hauchte Myrna neben ihr, während sich die beiden Mädchen in ihren Kleidern durch das Gebüsch schoben.
Noch vor wenigen Minuten war sie Feuer und Flamme für Aeryns Plan gewesen, doch sobald sie ihr Dorf hinter sich gelassen hatten und den Wald betraten, war ihre Aufregung in Furcht umgeschlagen. Für Phantastereien war Myrna immer zu haben, wie ein Kind erfreute sie sich an den alten Geschichten, doch wenn es darum ging, ein Abenteuer außerhalb ihres Kopfs zu erleben, zog sie die Nähe des wohligen Hausfeuers vor.
„Mutter sagt, dass eine der Feen die Hühner krank machte. Nur Fünf von Zwölfen hat überlebt.“
„Dann hätte sie sich lieber nicht diesen scheußlichen Köter angeschafft, der das kleine Volk mit seinem Jaulen durch die Wälder jagt“, erwiderte Aeryn fest.
Myrna verstummte. Sie wusste, dass Aeryn recht hatte. Doch ganz geheuer war ihr der Gedanke, das Feenvolk aufzusuchen, trotz allem nicht. Im Schatten der weiten Feenhügel gingen die Dorfbewohner den Arbeiten ohne Hilfe ihrer Magie nach. Zu zerbrechlich waren die damaligen Bande zwischen Mensch und Feen gewesen, und bald kam man nicht umher, die Grenzen der jeweiligen Völker zu festigen. Die Wahrung dieser war ein ungeschriebenes Gesetz, das schon den Allerkleinsten beigebracht wurde. Zwar durchstreiften hier und da noch Feen das Land, weit von ihrem Reich entfernt, und nicht immer ging es glimpflich zwischen ihnen und den Menschen aus, dennoch kümmerten sie sich größtenteils um ihre eigenen Angelegenheiten.
Nur Aeryn hatte sich stets bemüht, die Bande zwischen Fee und Mensch nicht gänzlich abreißen zu lassen. Sie hatte keine Angst ihnen gegenüberzutreten. Denn die Feen waren ihr immer wohl gesonnen. Dafür hatte sie von klein auf durch regelmäßige Milchgaben und Brotkrumen gesorgt. Und obwohl die Bewohner ihres Dorfes von ihnen als unberechenbare Wesen – mal gutgesinnt, mal garstig – sprachen, fürchtete sie ihre Magie nicht. Mehr noch, sie war sich sicher, dass sie ihre Gebete erhörten und sie eintreten ließen.
„Dort ist es“, sagte sie aufgeregt und deutete auf das Waldstück vor ihnen.
Einzelne Sonnenflecken tanzten geisterhaft über das Moos, das wie ein mächtiger Teppich über allem lag. Allein die Bäume hatten es durchbrechen können und reckten sich höher als jeder Kirchturm gen Himmel. Und zwischen ihnen, im Schatten des satten Grüns, bildeten kleine gesprenkelte Pilzköpfe wie im erstarrten Reigen einen Kreis. Der Feenring.
Hier tanzte das kleine Volk und feierte ausgelassene Feste. Hier sprangen sie von Pilz zu Pilz zwischen ihrer und der Welt der Menschen umher.
Doch keine der Feen war zu sehen. Unberührt und magisch wartete der Ring auf neue Besucher.
„Sie sind nicht hier“, seufzte Aeryn.
„Aber wir haben den Feenring nun gesehen“, flüsterte Myrna, bedacht darauf, keines der kleinen Wesen in seinem Versteck aufzuschrecken. „Bitte lass uns wieder gehen.“
„Sie erscheinen nicht, weil sie nicht wissen, wer wir sind“, erwiderte Aeryn und schlich in aller Vorsicht aus dem Geäst auf das Moos.
„Aeryn, nicht!“, zischte Myrna.
Wie gelähmt stand sie im Gebüsch und umklammerte die dürren Äste, als könnten diese sie vor der Macht der Feen beschützen. So konnte sie nur beobachten, wie Aeryn vor dem Kreis hinkniete, um eine in Stoff gewickelte Gabe behutsam abzulegen. Noch rührte sich nichts.
Aeryn erhob sich wieder und warf den Kopf zurück, um Myrna zuzulächeln. Ein merkwürdiges Lächeln war das. Friedlich, und doch mit einer Spur Trauer darin. In diesem Moment wirkte sie im Tanz der Sonnenstrahlen mit ihren rosa Wangen selbst wie ein magisches Wesen.
Das Bersten von Ästen ließ Myrna aufschrecken. Doch es kam nicht vom Feenring, sondern war direkt hinter hier. Ängstlich fuhr sie herum. Die Feen würden ihr und Aeryn Böses antun, dessen war sie sich sicher. Niemals hätte sie einen Fuß in diesen Wald setzen sollen.
„Was machst du hier, Myrna?“
Ihr Herz schien kurzzeitig auszusetzen. Gerne hätte sie sich ihrem Bruder, der wohl aus Sorge nach ihr gesucht hatte, in die Arme werfen.
„Es ist nur Kalean“, prustete sie halb lachend, halb weinend heraus. „Aeryn, es ist nur Kalean.“
Sie wandte sich wieder ihrer Freundin zu, die sicherlich genauso einen Schrecken erfahren hatte wie sie. Doch Aeryn war fort. Der Moosteppich lag wie zuvor in Stille und Einsamkeit, als hätte niemand ihn zuvor betreten. Lediglich der Stoffbeutel lag wie ein mysteriöses Überbleibsel vor den Pilzreihen.
„Sie haben sie uns gestohlen! Die Feen haben Aeryn gestohlen!!!“