Das Schneegestöber kam erst in der Nacht zum erliegen. Yora umklammerte den dampfenden Krug umständlich mit den eingehüllten Händen. Wie auch beim Rest seines Körpers bot die Kluft aus dickem Tierfell und Leder wenig Bewegungsfreiheit, doch flinke Bewegung war in diesen Gefilden des Landes nicht erforderlich. Lediglich so viel war von Nöten, dass man nicht festfror. Alles darüber hinaus vermochte das unstete Gelände und die eisige Witterung zu verhindern.
Man hatte ihm geraten, seine Hände und das Gesicht der Kälte niemals schutzlos offenzulegen. Wie ein tollwütiges Tier würde sie sich an ihm festbeißen, ihm Nase und Finger abnagen. So saß er mit den anderen vermummten Männern wie ein unförmiger Bär vor dem Feuer und versuchte die Stoffschichten über seinen Mund für einen Moment zu entfernen, um sich das heiße Gebräu einzuflößen, dass ihn die Nacht über warm halten wird. Es war das Traditionsgetränk der Eishöhen: Wein aus dem südlichen Teil der Sonnenlanden wurde mit den Blüten der Feuerblume und anderen Gewürzen aus Mehrra vermischt und lange über dem Feuer gekocht. Heraus kam eine glühend heiße Brühe, die Lippen und Rachen verbrennt und sich derart tief in die Eingeweide frisst, dass man das Nachbrennen noch beim Pinkeln spürte. Aber gegen die Kälte war es ein unschlagbares Mittel, dass auch Yora nach Tagen in den Eishöhen nicht missen wollte, wenngleich er es noch immer nicht so schnell herunterschütten konnte wie der Rest der Truppe.
Es war nur eines der Dinge, über die sich die anderen Männer lustig machten. Als Neuling der Nordführertruppe war er auf die spöttischen Gesichter und das Gelächter der anderen natürlich gefasst gewesen. Schließlich gab es in dieser Gegend bei den rauen Bedingungen keine anderen großen Freuden, die man ausleben konnte. Da standen kleine Sticheleien an der Tagesordnung. Doch Yora scherte sich nicht weiter darum, denn die größte Herausforderung stellte die Überführung der Fracht in den Suras bei Eis und Wind dar. Er musste seine Gedanken auf die nächsten Tage fokussieren, an den Abläufen des Aufbruchs am Morgen, der Ermittlung der Essensrationen und den Routen durch das schneeverwehte Gelände. Bei Letzterem musste er sich an Drubald, den Truppenführer halten, der Zeit seines Lebens in den Eishöhen unterwegs war und jede noch so kleine Schneeflocke zu deuten wusste. Der alte Bär kannte die sicheren Wege ebenso gut wie die Abgründe, die unter der Schneedecke verborgen darauf lauerten, dass man einen falschen Tritt tat.
In der kurzen Zeit bei den Nordführern hatte Yora bereits einige Geschichten darüber gehört, wie Männer mit einem Mal von der Erde verschluckt wurden und ihre hallenden Schreie erst mit dem Aufschlag auf den Grund der Eisspalte verstummten. Ein grauenvoller Tod. Die Tiefe verschaffte den menschlichen Verstand Zeit genug, den eigenen Fehler in vollem Umfang zu begreifen, und doch zu wenig, um etwas daran zu ändern.
„Kleiner, sieh nach der Fracht“, brummte Drubald aus seinem Fell heraus. „Und nimm den Feuerwein mit.“
Yora nickte pflichtbewusst, obgleich er lieber den Rest der Nacht am warmen Feuer seinen Gedanken nachsinnen und den Geschichten der anderen lauschen wollte bis ihm vor Erschöpfung die Augen zufielen. Er schenkte seinem Krug etwas vom Gebräu nach, nahm einen der schmalen Feuerscheite und erhob sich. Seine Stiefel gaben bei jedem Schritt ein dumpfes Knirschen von sich und sackten in der Schneedecke bis zum Ende des Schafts ein. Ein Vorankommen in der Dunkelheit war schier unmöglich, so war er froh darum, dass Heron, der für die Fracht zuständig war, sie wenige Meter von ihrem Lager gesichert hatte. Schnaubend hatte er von sich gegeben, dass der Auftrag eine besondere Versorgung der Fracht vorsah, wenngleich er sich mit jeder Faser seines Körpers dagegen sträubte, dafür auch nur einen Finger mehr zu rühren.
Yora näherte sich dem Fellberg, der an vier Seiten mit Ketten versehen und mit Stahlpfosten im Eis fixiert war. Mit schwenkendem Feuer umkreiste er den Berg, der sich bei seinem Anblick zu erheben schien. Er war noch nicht eingefroren.
Seit Beginn ihrer Reise von Rantall aus hatte er dem Dämon nicht ins Gesicht blicken können, da dieses von einer weiten Kapuze verhüllt war. Kein Mensch – abgesehen von den Nordführern - durfte wissen, um welche schreckliche Kreatur es sich handelte, die ins eisige Suras-Gefängnis überführt werden soll, um dort den Rest ihres Lebens zu fristen.
Yora hörte sich schwer atmen, als er dicht vor dem Ungeheuer stand. Man hatte ihm eindringlich geraten, keine Angst zu zeigen. Dämonen könnten diese auf mehrere Meter riechen und auch wenn die Ketten ihre magischen Fähigkeiten unterbanden, waren sie listig genug, die menschliche Furcht für ihre Zwecke zu nutzen. Mit einem Mal riss er ihm die Kapuze vom Kopf, gefasst auf die grässlichste Fratze, die seine Fantasie ihm darbot.
Doch der Schock über das Gesicht der Kreatur, die für immer kriechend und blutend die Folter des Suras über sich ergehen lassen musste, nahm Yora den Atem. Der schmale Unterkiefer wurde von wildem Lockenhaar, so schwarz wie Kohle, eingerahmt, die milchweiße Haut, von violetten Blessuren verschandelt, spannte sich jung und zart über die hohen Wangenknochen. Ihre geschwungenen Lippen, von der Kälte aufgeplatzt und rau, kräuselten sich in Zorn über die Störung ihrer Ruhe.
Yora hielt das Feuer näher an ihr Gesicht, in der Annahme, sein Verstand spiele ihm einen Streich, den er zu durchschauen versuchte. Aber das Antlitz des jungen Mädchens blieb. Nur das Rot ihrer Augen – ein unverkennbares Merkmal eines jeden Dämons – wurde im Schein der Flamme größer, da sich ihre Pupillen, einer Katze gleich, zu Schlitzen zusammenzogen. Ein Mondstreuner. Von dieser Kaste hatte er während seiner Ausbildung im Suras gehört. Es seien sehr wendige Dämonen, die sich darauf verstanden, durch ihren perfekten Gleichgewichtssinn ihre Feinde beinahe lautlos zur Strecke zu bringen. Doch noch gefährlicher machte sie ihre Fähigkeit, sich mehrere Male zurück ins Leben zu stehlen und durch den erlebten Tod stärker hervorzugehen. Nun verstand Yora die unübliche Anweisung, die Dämonin bis zur Ankunft im Suras mit allen Mitteln am Leben zu halten. Nur die Götter wussten, welche Auswirkungen der Tod dieses Mädchens auf ihre Reise haben würde.
„Was willst du?!“ Ihre Worte spie sie ihm in aller Abneigung entgegen.
Unwillkürlich musste er schmunzeln, denn er hätte nicht erwartet, jemals ein garstiges Wort aus einem solch hübschen Mund zu hören. Die Mädchen seines Heimatorts waren allesamt wohl erzogen, besonders gegenüber den Herren. Die Schönsten unter ihnen waren gleichfalls die Anständigsten. Und Langweiligsten.
Er hielt der Dämonin den Krug an den Mund, da ihre Arme stramm an den Ketten hingen. Einen beeindruckenden Schluck nahm sie vom Feuerwein, verzog das Gesicht und spuckte ihm die Hälfte vor die Füße.
„Was für eine ekelhafte Pisse“, schimpfte sie.
Er grinste in ihre Katzenaugen hinein.
„Ja, das ist es.“