Versteckt unter dem Blätterdach des immerwährenden Frühlings saß er bei ihr. Nicht allzu nah, noch vertraute er sich nicht, noch konnte er die Kontrolle verlieren. Das Sonnenlicht strahlte auf ihr braunes Haar und ließ es golden schimmern, während sich ihre zarten Gesichtszüge beim Sprechen veränderten. Wenn sie über den Himmel und den Wald redete, weiteten sich ihre Augen und die Winkel ihrer Lippen versuchten, den Wangen näher zu kommen. Erzählte sie jedoch von den Nächten oder der Ernte, zogen sich die Augenbrauen zusammen und der Mund wurde schmal wie ein Grashalm. Lange vor der Zeit des Beisammenseins hatte er diese Wandlungen in ihrem Ausdruck beobachtet. Doch aus der Ferne hatte er sie nicht deuten können, die Worte fehlten. Davon schien sie allerdings einige zu haben.
Er selbst hatte nie verstanden, weshalb die Menschen so viel redeten. Was ihn dabei am meisten wunderte, waren die Worte, die ohne ein Gehör finden zu wollen in seltsamen Reimen und fließenden Tönen ihre Zungen verließen. Eine Eigenart der Menschen, vielleicht, um die Stille zu füllen, die sie fürchteten.
Seinesgleichen brauchte das nicht. Was sie untereinander sagen wollten, konnte mit einem Blick klar gemacht werden. Nur manches mal machten sie sich einen Spaß daraus, die Sätze der Menschen nachzuahmen, was sich blechern und sinnlos anhörte. Denn sie waren nicht hier, um zu reden.
„Ich weiß nicht, wie ich dich ansprechen soll“, sagte sie irgendwann und sah ihn fragend an.
Sofort wurde wieder dieses unbändige Feuer in seiner Brust entfacht. Er wandte den Blick von ihr, musste sich zusammennehmen, sich nicht auf sie zu stürzen. Denn es würde nur enden wie das letzte Mal. Er konnte ihr nichts antun.
„Hast du denn keinen Namen?“
Warum war das wichtig? Namen waren auch nur Worte. Und Bezeichnungen für seinesgleichen hatten die Menschen viele, wieso also wollte sie nicht eines davon nutzen? Vielleicht aber suchte sie nach einem Begriff, das nur ihm gelten würde. Ihre Augen wanderten nachdenklich über die Baumwurzeln bis hin zum Blätterdach.
„Sienthar heißt das Wiedergeborene, die Erneuerung. Wie wäre es dann mit Sien?“
Sien, der Wiedergeborene, der Erneuerte. War er das denn? Zwar konnte er sich nicht erklären, was mit ihm passiert war, als er ihr das erste Mal begegnete, doch erneuert fühlte er sich nicht. Vielmehr verwirrt und unentschlossen. Es war eine ganze Reihe schwer fassbarer Gemütszustände, die sie in ihm auslöste. Sie hingegen schien sich über ihren Einfall zu freuen, die Augen glänzten und das Gesicht klarte auf. Es bändigte sein Inferno, drosselte es, bis nur noch ein Flackern zu spüren war.
Wäre es möglich, dass der neue Name, der in seinen Ohren noch fremd und bedeutungslos klang, einen Platz in ihm finden würde? Gewiss, man würde ihn in eine endlose Leere werfen. Aber vermutlich könnte er dort wachsen und vertrauter werden, an Bedeutung gewinnen und ihn ausfüllen. Möglicherweise sogar zeigen, dass er mehr war als ein blutrünstiger Jäger.
Sien. Ja, mit diesem Namen konnte sich alles ändern.