An jeder Gabelung hielt Talfan inne. Er nahm die immer gleiche Münze zur Hand und betete zu seinem Gott. „Herr Phex, ich bin dein Werkzeug. Zeige mir, wohin du mich führen willst. Zahl für links, Kopf für rechts.“ Dann warf er die Münze und ging dorthin, wo sein Herr ihn haben wollte.
Als er Perainefurten verlassen hatte, war er von Zorn erfüllt gewesen. Zorn auf Turike und ihre Vorwürfe. Zorn auf Rako, der ihn im Stich gelassen hatte. Zorn auf sich selbst, weil er sich nicht besser angepasst hatte. Weil er sich seinem Jähzorn hingegeben und Turike angeschrien, Rako die kalte Schulter gezeigt hatte. Weil er gegangen war. Jetzt war er wieder allein und ohne einen Ort, an den er gehörte. Doch der Zorn war inzwischen verraucht und hatte Schuldgefühlen und Einsamkeit Platz gemacht.
Einzig sein Esel freute sich, dass sie wieder unterwegs waren. Alfons hatte es immer geliebt, mit ihm lange Wegstrecken zurückzulegen, und er genoss die freie Natur so offensichtlich, dass Talfan unwillkürlich lächelte. Er war froh, seinen Esel zu haben. Der reagierte mit einem genüsslichen Schnauben, als Talfan ihn liebevoll hinter den Ohren kraulte. „Ich bin froh, dass ich dich habe, alter Freund“, sagte er leise.
Dann straffte er die Schultern, verdrängte die Emotionen und setzte seinen Weg fort. Phex hatte ihn nach links gewiesen, in Richtung einer Stadt namens Yol-Ghurmak. Vielleicht gab es dort ja eine Aufgabe für ihn.
Der Weg war zu weit, um ihn an einem Tag zu schaffen. Talfan und Alfons machte das aber nichts aus. Die beiden waren es gewohnt, im Freien zu schlafen, also war Talfan guter Dinge, während er mit seinem Esel durch die hügelige Landschaft wanderte, immer der Straße folgend. Die Sonne schien, die Temperaturen waren recht angenehm und auf den Wiesen um sie herum wogte das hohe Gras, das von einigen bunten Herbstblumen verziert wurde. Immer wieder legte er eine Pause ein, um Alfons ein wenig an Kräutern, Gräsern und Büschen knabbern zu lassen – sie hatten es nicht eilig.
Am späten Nachmittag zogen Wolken auf, die Talfan kritisch musterte. „Es könnte heute Nacht regnen, mein Freund“, sagte er gedankenverloren zu seinem Esel. „Lass uns nach einem Unterschlupf Ausschau halten. Schaden wird es nicht.“ Sein Blick heftete sich auf den nahen Wald, der durch seine herbstbunte Färbung unmöglich zu übersehen war. Er schien die Wiesen zu ersetzen, die das Landschaftsbild bisher dominiert hatten, und bot sicher genügend Material für eine geschützte Übernachtung. Also führte Talfans Alfons dorthin, wo der Esel das nahe Gebüsch unsicher machte, während Talfan aus einigen abgeschnittenen Ästen und kleinen Stämmen eine Behelfsunterkunft baute. Er selbst würde gut hineinpassen – Alfons hingegen störte ein wenig Regen nicht.
Die Zeit bis zur Dämmerung nutzte Talfan, um ein Stück Boden freizukratzen und eine sichere Feuerstelle zu errichten, Holz zu sammeln und einen Teil seiner Brot- und Käsevorräte als Abendessen zu genießen. Als die Dunkelheit hereinbrach, band er Alfons locker an einen nahen Baum, wickelte sich in seinen Umhang, betete und schlief zum Geräusch der ersten Regentropfen ein.
Ein ungewöhnliches Schnauben Alfons‘ weckte Talfan. Der Regen hatte aufgehört, doch er hörte ein Rascheln. Etwas stimmte nicht.
Er griff nach Dolch und Rapier und drehte den Kopf so weit, dass er in die Dunkelheit spähen konnte. Das Feuer war heruntergebrannt, die verbliebene Glut gab kaum noch Licht ab. Für seine Augen genügte es jedoch, und was er sah, verblüffte Talfan.
Ein Kind, vermutlich keine sieben Sommer alt, versuchte, Alfons an seinem Strick zur Straße zu ziehen.
So leise wie möglich erhob Talfan sich, nutzte die Geräusche, die Alfons und das Kind erzeugten, um das Rascheln seiner eigenen Schritte im Laub zu tarnen. Sich selbst verbarg er in den Schatten, eine Fähigkeit, die sich seit seiner Weihe zum Priester des Herrn der Nacht noch verstärkt hatte.
Unbemerkt schlich er sich hinter das Kind, das verbissen an Alfons‘ Strick zerrte.
„Er mag es nicht besonders, wenn man ihn zwingt“, sagte er mit sanfter Stimme.
Das Kind fuhr vor Schreck herum, einen Dolch in den kleinen, zitternden Händen. Doch Talfan war nicht dumm – längst hatte er sein Rapier erhoben, das sein Gegenüber nun an der Kehle spürte. Talfans Reichweite übertraf die des kleinen Diebes um Längen.
„Was soll das?“, fragte er mit ehrlicher Neugier. Er war sich sicher, dass das Kind alleine war. Warum versuchte es, Alfons zu stehlen?
Es antwortete ihm nicht. Talfan dirigierte es hinüber zur Feuerstelle, wo er mit wenigen Zweigen das Feuer wieder entfachte. Im Licht der Flammen konnte er den Möchtegerndieb endlich genauer mustern.
Was er sah, erregte unwillkürlich sein Mitleid. Das Kind, vermutlich ein Junge, war verdreckt, seine Kleidung zerlumpt. Im Gesicht hatte es mehrere Schrammen, und die Hände zeugten davon, dass es häufig wortwörtlich im Dreck wühlte. Nicht nur, dass auch sie vor Schmutz starrten, auch waren einige Fingernägel abgebrochen.
„Wer bist du?“, fragte Talfan freundlich und steckte sein Rapier wieder weg. „Warum wolltest du meinen Esel stehlen?“
Der Junge – Talfan war sich inzwischen recht sicher, dass es einer war – antwortete noch immer nicht. Sein Gesicht zeigte Trotz und Ablehnung.
Also versuchte Talfan es anders. „Möchtest du etwas essen? Ich habe Brot und Käse und noch ein wenig geräucherte Wurst.“
Diese Worte lösten eine sichtliche Veränderung in seinem Gegenüber aus. Die Maske des Trotzes und der Ablehnung schmolz dahin, und was dahinter zum Vorschein kam, traf Talfan tief. Etwas in den Augen des Jungen weckte Erinnerungen in ihm, die er nicht haben wollte, und rasch griff er nach den Satteltaschen und holte etwas von seinem Proviant hervor.
Als der Kleine hastig danach greifen wollte, zog Talfan den Arm aus seiner Reichweite. „Sag mir bitte erst, wie du heißt und was du hier draußen machst.“
Kurz flammte der Trotz wieder auf, doch dann gab der Junge nach. „Geron. Ich bin Geron. Bitte gib mir was zu essen.“
Talfan konnte den flehenden Augen nicht länger widerstehen und reichte dem Knaben die Vorräte. „Schön, dich kennenzulernen, Geron. Ich bin Talfan.“
Es war schwierig, dem Kleinen seine Geschichte zu entlocken. Er war vor Wochen von zuhause fortgelaufen. Wenn Talfan es richtig interpretierte, hatten seine Eltern ihn geschlagen, und seitdem war der Junge auf sich allein gestellt, versuchte, irgendwie weiterzukommen, egal wohin, einfach nur fort von dem Ort, den er nicht mehr sein Heim nennen konnte.
Als Geron endlich alles erzählt hatte, hatte Talfan ihn in seine Decke gewickelt und in den Unterschlupf geschoben. Was der Kleine jetzt brauchte, war ganz klar erst mal ein wenig Schlaf – außerdem gab ihm das Zeit zum Nachdenken. Was sollte er mit dem Kind anfangen?
Erst, als er vor dem Lagerfeuer am Boden saß, überkam ihn die Erkenntnis. Das war es, was er in den Augen des Jungen gesehen hatte, was ihn so berührt hatte: Er war ihm ähnlich. Talfan verstand genau, was es hieß, von den Eltern misshandelt zu werden, zu fliehen, heimatlos zu sein. Nur dass er nicht so unglaublich jung gewesen war, als Phex ihm seine Chance zur Flucht anbot.
Phex ... Endlich wurde Talfan das ganze Ausmaß dieser Begegnung klar. Sein Auftrag lag gar nicht in der nächsten Stadt, beziehungsweise, er tat es nur zum Teil. Sein Gott hatte ihn zu dem Kind geführt, damit er ihm helfen konnte. Damit er es mitnehmen konnte, in die nächste Stadt. Talfan wusste, dass es dort einen Tsatempel gab. Dort würde man sich des Jungen annehmen.
Lächelnd danke er seinem Gott für diese Aufgabe. Er hatte ihn gerettet, als er von zuhause floh – und jetzt tat er dasselbe für dieses Kind. Mit Talfan als seinem Werkzeug.