Charlotte erwachte alles andere als erholt in der Luxuskabine des Ozeandampfers. Sie musste schlecht geträumt haben, denn das gemütliche Bett mit seinen unzähligen Kissen war unmöglich schuld daran, dass sie am ganzen Leib zitterte und sich am liebsten übergeben hätte.
Seekrank? Eher nicht. Dieses Schiff durchpflügte die Wogen des Atlantiks vollkommen unbeeindruckt von den Unbillen der rauen See. Nun ja, noch befanden sie sich in heimischen Gewässern unmittelbar vor Irland. Den Ozean selbst würden sie erst in den kommenden Tagen überqueren.
Trotzdem. Irgendetwas hatte Charlotte in der Nacht heimgesucht und sorgte nun für ein Übermaß an furchtsamen Überlegungen. Es fühlte sich so an, als wollte jede Faser ihres Körpers lieber woanders sein, nur nicht an Bord eines funkelnagelneuen Dampfschiffes.
Sie atmete durch. Papa hatte eine Menge Geld dafür gezahlt, damit sie es bequem hatte auf ihrer Reise in das Land, von dem sich die Familie so viel versprach. Ihr Cousin dritten Grades, Cedric, würde sie in ein paar Tagen in New York in Empfang nehmen, und wenn alles so verlief, wie Papa und ihr Onkel es besprochen hatten, stünde ihrer Heirat nichts im Wege.
Cedric war in Ordnung. Ein junger Mann mit Humor und einem Faible für Rugby und teure Automobile. Ausgaben, die der Onkel aus der Portokasse tätigte.
Auch das war es nicht, was Charlotte den Magen verdrehte.
Irgendetwas Schreckliches war geschehen. Nicht in echt – nur in ihrem Traum, an den sie sich leider nicht erinnern konnte. Es war nur ein Traum gewesen. Die Realität versprach eine überaus vergnügliche und vor allem schnelle Überfahrt in die Neue Welt.
Die Bedienstete ihres Vaters, die sie auf dieser so schicksalsträchtigen Reise begleitete, klopfte an und betrat die Suite, um Charlotte bei der Ankleide behilflich zu sein. Diese genoss den Service, auf den sie in den Jahren ihrer Internatserziehung hatte verzichten müssen. „Nanette, lieber das Hochgeschlossene.“ Sie zeigte vom Bett aus auf den geöffneten Kleiderschrank, in dem eine üppige Auswahl an eleganten Roben auf sie wartete. „Es ist so frisch an Deck.“
Bald saß die hübsche junge Frau im Speisesaal der ersten Klasse und mühte sich mit einem Teller Rührei ab.
„Nanu, Miss Montgomery, Sie sehen ja ganz blass aus. Bekommt Ihnen die Seeluft nicht?“ Eine hagere Dame in vorangeschrittenem Alter setzte sich fröhlich lächelnd zu ihr – Mrs Lines aus New Jersey, die mit ihrer Tochter Mary, von Paris kommend, an Bord des Luxusliners übersetzte.
Mary war nur wenig jünger als Charlotte. Die beiden hatten gleich eine gewisse Sympathie füreinander entwickelt.
„Ach, irgendwie schlecht geschlafen ...“, kam eine gemurmelte Erwiderung.
„Schlecht geschlafen? Du liebe Güte, was für Schiffe muss Ihnen die White Star Line denn bauen, damit das nicht wieder vorkommt!“, rief die Dame, doch lachte sie dabei augenzwinkernd.
„Mama, das hat vielleicht gar nichts mit dem Schiff zu tun ...“, meldete sich Mary schüchtern zu Wort.
„Gewiss, gewiss, Liebes, du musst mich nicht so ernst nehmen“, befand Mrs Lines in bester Laune.
Charlotte hatte bei dem netten Seating gestern Abend Bekanntschaft mit beiden Amerikanerinnen geschlossen. Ihr entgingen nicht die anerkennenden Blicke der älteren Dame, die sie immer wieder in ihre Richtung schickte, und da ihr die Gesellschaft auf der weiten Reise ganz sicher nicht unangenehm war, ließ sie sich bereitwillig ein wenig von ihr bemuttern. Dabei gab es reichlich Gelegenheit, die unverhoffte Freundschaft mit Mary zu vertiefen.
Die heitere Runde am Frühstückstisch verfehlte ihre Wirkung auf Charlotte nicht. Bald kehrte eine rosige Farbe auf ihre Wangen zurück, und es fiel ihr nicht weiter schwer, eine angemessene Haltung einzunehmen. Ihr Traum, vom Inhalt her längst vergessen, verlor alsbald auch seinen unterschwelligen Nachhall.
Den Tag verbrachten die vornehmen Ladys auf dem Promenadendeck flanierend, von wo aus sie die Ankunft weiterer Passagiere aus Queenstown verfolgen und kommentieren konnten. Dazwischen plauderten sie miteinander in den diversen Cafés an Bord, um sich nach einem Wechsel der Garderobe erneut zum Dinieren an der Tafel des Kapitäns einzufinden.
„Meine Liebe.“ Mrs Lines beugte sich konspirativ zu Charlotte vor, die ihr schräg gegenüber saß. „Heute Nacht werden Sie sicher herrlich schlummern! Wir befinden uns jetzt auf dem weiten Ozean. Die Wellen werden Sie ganz wunderbar in den Schlaf wiegen!“
Die junge Frau hatte fast schon vergessen, welch wenig erholten Eindruck sie am Morgen auf ihre Gönnerin gemacht haben musste. Der Tag war jedoch so sorgenfrei und entspannt verlaufen und ihre Laune dementsprechend vergnügt, dass sie Mrs Lines im Brustton der Überzeugung versichern konnte, daran keinen Zweifel zu hegen.
„Aber erst gehen wir doch tanzen!“, merkte Mary an.
„Natürlich, Liebes“, beruhigte sie ihre Mutter, „wir haben es den ehrenwerten Gentlemen schließlich versprochen!“
Die besagten Herren am Tisch, durchaus dem Gespräch der Damen zugewandt, verneigten sich auf diese Worte hin höflich und sehr elegant.
So eine Überfahrt mit dem Dampfer war schon recht praktisch, dachte sich Charlotte insgeheim, denn man fand sich ganz von selbst in bester Gesellschaft wieder. Die Herren brauchten lediglich zwischen Hauptgang und Dessert eine der anwesenden Damen um die Gunst eines Walzers oder Foxtrotts zu bitten.
Sie hatte gerne zugesagt, zumal Mrs Lines und ihre Tochter sie begleiteten.
Wenig später verließen Charlotte und Mary den Speisesaal, um Arm in Arm zum Ballsaal zu schlendern. Sie wählten trotz kühler Temperaturen den Weg entlang der Reling, denn auf diese Weise kamen sie nicht umhin, die imposante, geschwungene Treppe im Inneren des Schiffes zu nehmen, was ihnen einen grandiosen Auftritt bescheren sollte.
„Schau mal, die Sterne!“ Mary zeigte staunend auf die unzähligen funkelnden Diamanten, die hoch über ihnen den samtschwarzen Nachthimmel verzierten.
„Weil es so k-k-kalt ist ...“, bibberte Charlotte und zog sich den Seidenschal zurecht, den sie sich um ihre spitzenumrankten rosigen Schultern gelegt hatte.
„Wo ist der Mond?“ Ihre Freundin schaute ungeachtet dessen neugierig um sich.
„Der geht erst später auf, und dann haben wir bald Neumond.“ Das würde ganz schön dunkel werden auf dem Ozean!
„Dann sieht man die Sterne umso besser!“
Sie verweilten andächtig und betrachteten die schwarzen Wogen.
Eine feierliche, zu Herzen gehende Melodie verließ Charlottes Mund, ohne dass sie es bemerkte.
„Was summst du da?“
„Was? Ich ... ach so ...“ Nun erst wurde ihr bewusst, was ihr da durch den Kopf gegangen war. „Näher, mein Gott, zu dir ...“ Sie wunderte sich über sich selbst.
„Wie kommst du denn darauf?“
„Weiß ich auch nicht ...“
„Dann lass uns jetzt etwas Lustiges hören!“
Kichernd eilten die beiden weiter, voller Vorfreude auf beschwingten Walzer und charmante Tanzpartner.