Dieses Gespräch behielt Charlotte für sich. Nie und nimmer hätte selbst die naive Mary ihr eine solche Unterhaltung geglaubt!
Nein, alles war gut, sie litt ein wenig unter Seekrankheit. Jaja, werte White Star Line, es gab empfindsame Passagiere, die trotz modernster Technik des Nachts kein Auge zutun konnten ...
Den ganzen Tag lang grübelte Charlotte über das Gehörte. Der fremde Mann hatte von einem Eisberg gesprochen. Wie sollte der denn hierher kommen? Wie sollte, genaugenommen, der pitschnasse Seemann selbst hierher kommen? War in der Nähe ein Schiff verunglückt? Und er der einzige Überlebende? Oh Gott, wie furchtbar! Ob sie den Kapitän fragen sollte? Der musste davon doch gehört haben! Wieso tauchte der Mann aber zweimal hintereinander ausgerechnet in ihrer Kabine auf? Und ausgerechnet mitten in der Nacht? Wenn er Hilfe benötigte, war es da nicht sinnvoller, laut schreiend über Deck zu laufen und nicht eher Ruhe zu geben, bis sich die Besatzung um die Angelegenheit kümmerte?
Beim Dinner fasste sie sich ein Herz und sprach den Kapitän an. „Mister Smith, darf ich Sie etwas fragen?“
„Selbstverständlich, junge Dame. Was möchten Sie denn wissen?“
„Gibt es ... gibt es hier ... ähm ... Eisberge?“ So, nun war es heraus. Mochte Mrs Lines sie noch so erstaunt anschauen.
„Miss Montgomery“, hob sie auch gleich an, „wenn es hier Eisberge gäbe, würde Mister Smith gewiss nicht mit diesem Tempo fahren!“
„In der Tat, wir haben einige Eisbergwarnungen erhalten“, unterrichtete der Kapitän die erstaunte Tischgesellschaft.
„Und dann wollen Sie trotzdem das Blaue Band erwerben?!“ Mrs Lines riss entsetzt die Augen auf.
„Oh nein, Madam, dazu ist das Schiff nicht ausgelegt.“ Er versuchte lächelnd, sie zu beruhigen. „Wir verfügen lediglich über drei Propeller, wissen Sie, und die Mauretania besitzt vier und ist wesentlich kleiner als wir. Damit haben wir keine Chance, ihren Rekord zu brechen.“
„Aber sagte nicht Mister Ismay heute Mittag, er wünsche, mit dieser Fahrt die schnellste Atlantiküberquerung zu schaffen?“
„Das ist richtig. Die schnellste innerhalb der White Star Line allerdings. Deshalb fahren wir mit einundzwanzig Knoten. Die Mauretania macht fünfundzwanzig. Dann hätten wir hier an Bord aber dermaßen starke Vibrationen, dass Sie nachts nicht schlafen könnten. So ist es doch viel angenehmer.“
Wenn der wüsste! Da gab es immerhin Charlotte, die nachts keine Ruhe fand! Nun umso weniger, da sie herausgefunden hatte, dass die nahezu geisterhafte Erscheinung in ihrer Kabine keinen Unsinn erzählte! Eisberge! So weit im Süden!
„Aber wäre es nicht ratsam, langsamer zu fahren? Wenn es hier doch Eisberge gibt? Sie wollen doch nicht auf Ihrer letzten Fahrt havarieren!“, gab Mrs Lines mit Sorgenfalten im Gesicht zu bedenken.
„Na, Sie haben doch nicht etwa vor, mich in den Ruhestand zu versetzen? Eigentlich darf ich noch die Britannic in Dienst nehmen.“ Der Kapitän lachte, denn er stand tatsächlich kurz vor seiner Pensionierung. „Nun, wir halten die Geschwindigkeit, um möglichst schnell das Eisfeld zu durchqueren. Sollten wir eine unmittelbare Gefahr entdecken, drosseln wir das Tempo natürlich. Und zu Ihrer Beruhigung möchte ich hinzufügen, dass wir ohnehin bereits zehn Meilen weiter südlich fahren als sonst üblich, und hier hat man noch nie irgendwelche Eisberge gesichtet.“
Damit gab sich selbst Mrs Lines zufrieden. Bald drehten sich die Gespräche der anderen hauptsächlich um das Reiseziel New York, sowie die besten Adressen zum Einkaufen dort oder auch, dass man wirklich auf keiner früheren Überfahrt derartigen Komfort und solch köstliche Speisen genossen hatte wie hier und heute.
Lediglich Mary fiel auf, wie stumm und in sich gekehrt die Freundin am Tisch saß. „Denkst du noch immer über Eisberge nach?“, erkundigte sie sich leise.
„Was? Oh ... nein ... alles gut“