Am nächsten Tag konnte sie nicht umhin, ihrer Freundin von dem gruseligen Geschehnis zu berichten.
Mary hing erwartungsgemäß wie gebannt an ihren Lippen und glaubte jedes Wort. „Wer war er?“, hauchte sie atemlos.
„Ich hab keine Ahnung! Irgendeiner von der Besatzung wohl, ein Matrose oder so ...“ Charlotte kannte sich mit diesen Dingen nicht aus.
„Und er hat sich einfach so in Luft aufgelöst?“
„Aber ja!“
„Wie soll das gehen?“
„Weiß ich auch nicht. Aber so war’s!“
„Vielleicht bist du bloß ohnmächtig geworden“, überlegte Mary.
„Könnte sein ... ist wahrscheinlicher, als dass ich einen Geist gesehen habe, nicht wahr?“
„Unbedingt! Aber dass da einfach so ein Mann in deine Kabine spaziert! Das musst du melden!“
„Ja wem denn? Und dann müsste man ihn auch erst auffinden!“
So gab es für die zwei den Tag über nichts Wichtigeres zu tun, als nach dem ominösen Eindringling Ausschau zu halten – ohne Erfolg natürlich. Mrs Lines mochte noch so sehr die Stirn runzeln – sie bekam kein Sterbenswörtchen aus ihnen heraus. Sie hätte sie ohnehin für verrückt erklärt!
Den Abend verbrachten sie wie zuvor mit ausgelassenem Tanzen und aufregenden Begegnungen.
Derart mit amüsanten Erlebnissen gerüstet, glaubte Charlotte nicht, dass ihr in der Nacht irgendetwas Schauriges zustoßen würde.
Tat es aber.
Wieder schreckte sie in der Dunkelheit ihrer Kabine aus dem Schlaf, und wieder klagte eine einsame Violine ihr Leid dem allmächtigen Schöpfer.
Sie war nicht allein!
Ganz deutlich vernahm Charlotte angespannte Atemzüge. „Wer ist da?“ Als ob es auf eine solche Frage jemals eine gescheite Antwort gegeben hätte!
Vielleicht war sie gar nicht aufgewacht, sondern träumte erneut von unheimlichen Dingen?
Beherzt zog sie an der Schnur der Nachttischlampe.
Da stand er! Der beklagenswerte, zitternde und überaus durchnässte junge Mann mit dem furchtsamen Blick! So echt, dass es unmöglich ein Traum sein konnte!
Unverschämtheit! Sie würde ihn gleich morgen früh dem Kapitän melden, dann mochte er zusehen, wie er sein nächtliches Eindringen in ihre Kabine erklärte, und dass er ihren Teppich unter Wasser setzte! Was fiel ihm bloß ein?! Und wieso schaute er so unglücklich drein? „Wer sind Sie?“
„Was?“ Er hob erschrocken den Kopf.
„Was machen Sie hier? Was ist passiert?“
„Passiert?“, wiederholte er erschüttert, „es ist so schrecklich! Ich ... ich wollte nicht, dass das passiert!“
„Aber was denn?“
„Es ist meine Schuld!“
„Was? Was ist Ihre Schuld?“
„Der Eisberg – ich hätte sie warnen müssen!“
„Wovon reden Sie?“
„Der Käptn hatte keine Ahnung ...“
„Keine Ahnung? Wovon?“
„Der Eisberg! Nun sind alle tot! Und ... und ich bin schuld!“
„Ich weiß nicht, von was Sie da reden. Wie heißen Sie?“
Er blickte sie unverwandt an und suchte verzweifelt nach Worten. „Sie müssen mir helfen ...“, wisperte er.
... näher zu dir ...
Die Geige verstummte.
Mit ihr verschwand das Bild des traurigen Matrosen.