Außenseiter
Wir sind alle Außenseiter.
Irgendwo. Von irgendwas. Immer.
Wenn andere sich über Sport unterhalten, Du aber keinen Sport machst, bist Du ein Außenseiter.
Wenn Du Dich mit Freunden über eure Lieblingsserien unterhältst, bist Du kein Außenseiter. Vielleicht aber der eine Freund, dem die eine Serie nicht gefällt und der sie deshalb nicht ansieht. Wenn ihr euch aber über eure liebsten Bücher unterhaltet, mischt er wieder mit.
Ich bin gerne für mich alleine. Dann lese ich oder schreibe. Manchmal netflixe ich auch einfach gerne. Während sich zur selben Zeit andere Leute verabreden, ausgehen und gemeinsam lachen.
Wenn sie dann am nächsten Tag darüber reden, bin ich eine Außenseiterin. Ich war nicht dabei. Ich gehöre nicht dazu, wenn sie den vergangenen Abend noch einmal gemeinsam Revue passieren lassen.
In der Schule saß ich oft für mich alleine. Wenn die anderen sich über Partys, Alkohol und Sex unterhielten, schrieb ich lieber an meinen Geschichten. Oder habe gezeichnet. Ihre Themen waren nichts für mich. Ich hatte schlicht kein Interesse daran. Zu dieser Zeit war ich fünfzehn, sechzehn. Für meine damaligen Schulkameraden war das merkwürdig. Da schlimmste war aber, dass ich anders dachte, als sie. So wurde ich zur Außenseiterin. Nicht zum ersten Mal.
Ich war schon immer... anders. Das war mir schon als Kind bewusst.
Ich war schon immer kreativ, künstlerisch begabt und meisterlich im entdecken von verborgenen Bedeutungen und Zusammenhängen, die anderen meist verborgen bleiben. Vielen fiel es schwer, mich zu verstehen und meinen Gedanken folgen zu können.
Damals hatte es mich nicht gekümmert. Jeder war schließlich anders. Auf irgendeine Art und Weise. Individualität war doch auch etwas gutes. Etwas, dem viele Menschen nachstrebten. Es bereitete mir keine Sorge. Nein, ich fühlte mich sogar wohl darin.
Vielen Leuten gelingt es nicht, mich richtig einzuschätzen. Die Einen kennen mich als extrovertierte, lebenslustige Frau, die jeden Abend wundervoll bunt werden lassen kann.
Andere beschreiben mich als still, zurückhaltend, schüchtern. Wissen, dass ich mich gerne zurückziehe. Manchmal für Tage, manchmal sogar Wochen.
Als sie mich kennen lernten war aber immer allen sofort klar: Ich war nicht 'normal'. Am Anfang war ich 'Außenseiter'.
Viele Jahre musste ich mir anhören, dass ich anders bin. Dass ich nirgendwo so richtig rein passte. Dass ich eine Außenseiterin wäre, die es im Leben einmal schwer haben wird, wenn sie sich nicht anpasst. Wenn ich keine Freunde fände, die jedes Wochenende etwas mit mir unternehmen wollten. Wenn ich keinen Partner hätte, an dem ich meine Jungfräulichkeit verlieren würde.
Ich hörte es so oft. Es kam von überall. Von den Leuten meiner Schule. Von meinen Freunden. Von meiner Familie. Ich hörte es immer. Auch wenn sie nicht sprachen. Ihre Stimmen hallten in meinem Kopf. Und irgendwann begann ich, ihnen zu glauben.
Damit begann die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich war keine Außenseiterin mehr. Und doch fühlte ich mich mehr denn je wie eine.
So ein richtiger Außenseiter ist eigentlich niemand.
Es gibt so viele Leute, die dieselben Interessen und Werte, wie ich selbst teilen.
Ja, ich bin Außenseiter, wenn andere Menschen sich über heiße One-Night-Stands und abgefahrene Partys unterhalten.
Ich bin kein Außenseiter, wenn ich mich mit anderen Leuten über das Schreiben unterhalte.
Ich bin Außenseiter, wenn meine Freundinnen sich über die populären Fernsehserien unterhalten. Ich schaue kein Fernsehen. Aber ich gehe genauso gerne zum Essen aus, wie sie. Also machen wir das gemeinsam, wenn wir die Zeit dazu haben.
Ja, ich mische nicht überall mit. Was mich nicht interessiert, lasse ich aus. So wie jeder andere auch. Nicht jeder muss schreiben, so wie ich. Nicht jeder muss tagträumen, so wie ich. Nicht jeder muss lesen, spazieren, wandern, Filme sehen, Serien schauen, reisen, kochen, essen, tauchen, Videospiele spielen, so wie ich. Und ich muss nicht leben, wie andere es sich vorstellen, nur, damit ich kein Außenseiter wäre. Ich bin gerne Außenseiter. Individuell.
Ich weiß nicht, seit wann der Begriff 'Außenseiter' so negativ behaftet ist. Außenseiter ist jemand, der seine eigenen Wege geht. Der abseits der Gesellschaft oder einer Gruppe stehen kann, es aber nicht muss. So empfand ich es früher einmal.
Mittlerweile kann ich diese Eigenschaften wieder sehr gut schätzen.
Ich war schon immer anders. Das war mir schon als Kind bewusst. Jetzt ist mir wieder bewusst, wie wertvoll diese Eigenschaft ist. Es bereitete mir keine Sorge mehr. Nein, ich fühlte mich sogar wohl darin.
Ich weiß heute, dass ich eine INFJ bin. Ich wundere mich nicht mehr darüber, wie ich Dinge intuitiv durchschaue, ohne sagen zu können wie oder warum. Ich weiß, dass ich mit meinen Einschätzungen dabei oft richtig liege, auch wenn es mir schwer fällt, dies zu erklären. Ich vertraue auf meine spontanen Eingebungen und meine innere Stimme. Ich kann die Gefühle von anderen spüren, als wären sie meine. Ich kann Menschen durchschauen, ohne viele Worte wechseln zu müssen.
Es kann ein Segen sein, aber auch kräftezehrend, erschöpfend. Dann brauche ich den Abstand. Was viele nicht verstehen, weil sie nicht wissen, was alles in mir vorgeht.
Heute verstehen meine Mitmenschen es. Ohne, dass ich mich erklären muss. Ich bin, wie ich bin, ohne wenn und aber. Ich versuche nicht mehr angestrengt, irgendwo hineinzupassen. Ich versuche nicht mehr, mich gegen das Außenseiter sein zu wehren. Ich lebe es. Und sie lernen es ebenfalls zu schätzen. Nicht nur mich, sondern auch mal Außenseiter zu sein.
Um mich befinden sich nur noch die Menschen, die ich liebe und die mich lieben. Keiner schimpft mich einen Außenseiter. Ja, ich bin anders. Anders gut. Und dafür geliebt. Auch wenn ich mich manchmal zurückziehe. Auch wenn ich oft und lange sehr still sein kann.
Ich bin gerne anders. I am content. 'Ich bin zufrieden', schlicht übersetzt. Eine schönere Übertragung, wie ich finde 'Ich bin in mir und ich bin glücklich'.