Selbstmord einer Unbekannten.
Anmerkung: In diesem Fall wird zu der Zeit der Veröffentlichung meines Textes noch ermittelt. Ob es wirklich um einen Selbstmord geht, darf ich nicht behaupten. Bitte denkt beim Lesen daran, dass dieser Text um meine Wahrnehmung der Situation geht. Ich beschreibe wahrheitsgemäß, was ich gesehen und was ich dabei gefühlt und gedacht habe.
Bitte meldet euch, wenn ihr die Inhalte unangebracht finden solltet. Ich persönlich finde es wichtig, darüber zu schreiben, um es einmal zu verarbeiten, aber auch mit anderen teilen zu können - um entweder vorzuwarnen, dass derartiges jederzeit jedem passieren kann oder auch zu helfen, das ganze selbst zu akzeptieren und zu verarbeiten, nachdem man es selbst erlebt hat.
Wer das erste Upload schon gesehen hat, bzw. in der Geschichte nur noch sehen konnte, dass das ursprüngliche nur noch 'unveröffentlicht' war, bei dem möchte ich mich hiermit entschuldigen. Mir war es wichtig, diese Anmerkung und einige Ergänzungen im Text noch einzufügen - doch gestern Abend war ich dazu schlicht nicht mehr in der Lage.
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"Selbstmord einer Unbekannten."
So vermerke ich es in meinem Tagebuch.
Nein, ein richtiges Tagebuch führe ich im Augenblick nicht. Ich vermerke es in meinem Bulletjournal, unter meinem Monatsrückblick. Dort möchte ich wenigsten ein paar Momente festhalten, wenn ich es schon nicht schaffe, 'richtig' Tagebuch zu führen.
Im Augenblick steht dort aber nicht mehr als diese Überschrift. Ich weiß nicht, was ich dazu schreiben soll. Kann.
Es fühlt sich so surreal an. Und doch weiß ich, dass alles davon Realität ist.
Ich sehe mich wieder am Bahngleis stehen. Dort warte ich auf die Straßenbahn, in die ich umsteigen möchte, damit ich weiter zu meinem Arbeitsplatz fahren kann. Die Umsteigezeit beträgt nur wenige Minuten. Da ich nicht still stehen kann, vertrete ich mich ein wenig die Füße. Zwar regnet es ein wenig, doch ich ziehe nur meine Kapuze weiter in die Stirn und lasse mich von den paar wenigen Tropfen nicht weiter stören.
Die Kälte des Frühjahrs zieht mir langsam in die Zehenspitzen, während ich zu beiden Seiten der Bahnlinie entlang blicke. Natürlich hoffe ich, dass ich meine Bahn in der Ferne schon erkennen kann, doch nichts.
Stattdessen regt sich auf der anderen Fahrtrichtung etwas. Dort fährt die Bahn langsam ein. "Nicht einsteigen" ist dort eingeblendet, wo normalerweise die Nummer Endstation vermerkt ist.
Ich fahre nicht häufig mit der Bahn, meist kann ich mir das Auto mit meinem Mann teilen. Wenn wir in der gleichen Schicht arbeiten, fahren wir zusammen.
Nur heute nicht.
Gedankenverloren schaue ich immer noch auf die einfahrende Bahn, auch wenn es nicht die ist, in die ich einsteigen werde.
Und da stiehlt sich plötzliche diese Frau in das Bild.
Es ist schon faszinierend, zu welchen Leistungen unser Gehirn fähig ist. Die Zeit zu verlangsamen in Situationen, die großer Aufmerksamkeit erfordern, zum Beispiel.
Was hat sie vor? Dachte ich noch, während sie einen Schritt auf die Gleise zumacht. Will sie noch die Gleise überqueren? Aber auf der anderen Seite ist doch nichts, während sie den nächsten Schritt macht. Die Bahn ist doch schon fast da, das wird nicht reichen. Wieso rennt sie weiter?
Im Grunde wusste ich, was sie vorhatte. Mein Verstand wollte das aber nicht akzeptieren. Das letzte was mir durch den Kopf ging, als die Bahn sie erfasste, war: Sie hat entschieden. Das war ihre Wahl. Ihr Wille.
Tragisch.
Traurig.
Verstörend.
So viel Verzweiflung.
Es wiederholt sich in meinem Kopf. Das Rennen an den Rand des Bahnsteigs. Der Sprung, gezielt und voller Verzweiflung.
Es hallt noch einige Momente nach. Keiner der Passanten rührt sich, während die Straßenbahn langsam zum Stehen kommt. Alles ist still, totenstill, für einige Augenblicke.
Ich merke schnell, dass nicht jeder gesehen hat, was ich gesehen habe. Doch das Wissen um das Geschehen verbreitet sich wie ein Lauffeuer, auch ohne Worte. Es liegt irgendwie in der Luft, frisst sich durch Mark und Bein.
Stille.
Ich sehe mich um, in die verstörten Gesichter, die ebenso wie ich versuchen zu verstehen, was soeben passiert war. Niemand rührt sich.
Ich erinnere mich an ein anderes Unglück, dem ich ebenso beigewohnt hatte. Damals war ich auch in eine Schockstarre verfallen, unfähig, mich zu bewegen. Doch diesmal will ich nicht untätig dastehen.
Mit zittrigen Händen ziehe ich meine Kopfhörer ab und wähle den Notruf.
Am anderen Ende wird der Anruf schnell abgenommen. Eine Frau meldet sich und ich erzähle ihr, was passiert ist. Meine Stimme ist brüchig, meine Worte sehr direkt. Ich ignoriere beides. Das Geschehene entschuldigt meinen Zustand, das andere muss sie ohnehin erfahren, um die nötigen Einheiten loszuschicken.
Während ich telefoniere, kommt langsam Leben in die anderen Passagiere zurück. Eine junge Frau, vielleicht mein eigenes Alter, blickt suchend über den Bahnsteig, ruft und winkt, ob jemand einen Notruf absetzt. Ich winke ihr zurück und deute auf mein Handy. Auch die anderen Passagiere nicken stumm und wissen sonst nicht mehr, was sie tun sollen.
Ich lege auf und wir warten alle. Was sollten wir auch sonst tun?
Mein Handy klingelte. Erschrocken sehe ich auf die Nummer. Ich erkenne sie nicht. Doch ich weiß von vorigen Anrufen bei der Notrufzentrale, dass es einer ihrer Leute sein kann. Und so ist es auch.
"Können Sie mir sagen, ob die Frau noch lebt?"
Bei der Frage zieht sich meine Brust zusammen.
"Nein", antworte ich schnell. Ich hatte gar nicht nachgesehen. Musste es auch nicht. So, wie sie unter die Bahn geraten war, bestand keine Chance, dass ...
"Nein, das kann nicht möglich sein. Ich habe es nicht nachgesehen. Und ich möchte das ehrlich gesagt auch nicht"- ich weine fast, während die Worte sich aus meinem Mund stehlen -"aber es ist nicht möglich, dass die Frau das überlebt haben kann."
Die andere Frau, die neben mir am ehesten noch zurück zu ihren Sinnen gefunden hat, näherte sich, während ich telefonierte.
"Dort liegen Teile ihres Gehirns", sagt sie.
"Sie lebt nicht mehr", gebe ich sofort an den noch laufenden Anruf weiter, "das hat mir soeben eine weitere Zeugin bestätigt."
Die Dame von der Notrufzentrale wirkt nicht überrascht. Das Gespräch ist schnell beendet.
Die junge Frau, die nun vor mir steht, hat ebenso gerötete Augen, wie meine es sein müssen. Dennoch sieht sie nicht nur sich selbst. Wir kennen uns nicht. Und doch fallen wir uns für einen Moment in die Arme. Warm.
Die Umarmung ist nur kurz, gerade lange genug, um einmal kräftig durchzuatmen. Dann sehen wir uns beide um. Mustern die anderen Passagiere, denken an den Bahnfahrer.
Ich eile los, um einen Blick auf seine Kabine zu erhaschen. Wollte sichergehen, dass es ihm gut ging - den Umständen entsprechend. Mir schießt das Bild des anderen Bahnunglücks, von vor etwa zehn Jahren, wieder vor Augen. Damals hatte ich in der Bahn gesessen, als zwei Straßenbahnen frontal ineinander gefahren waren. Der Fahrer meiner Bahn war damals völlig aufgelöst und hatte in Angst geschrieen. Dieser hier war aber allein, in einer leeren Bahn.
Einer der anderen Passagiere ruft mir schon zu, dass er Fahrer okay ist. Ich will mir das aber selbst bestätigen und trete anschließend beruhigt ein paar Schritte zurück.
Die ersten beiden Polizisten waren sehr schnell vor Ort. Die junge Frau und ich konnten kaum zwei Sätze austauschen, den Schock beginnen zu verarbeiten, da liefen sie auf den Bahnsteig.
Das ganze Prozedere der Schilderung des Vorfalls, Aufnahme der Daten, Absperrung und Sicherung des Bahnhofs ging sehr schnell - und sehr menschlich vonstatten. Die Beamten, Feuerwehrleute und Sanitäter behandelten uns mit viel Respekt und Mitgefühl. Nicht nur dafür haben sie meinen tiefen Respekt. Schließlich sind es nicht nur wir Passagiere, um die sie sich kümmern mussten.
Zuerst dachte ich, dass ich das Geschehene gut wegstecken könnte. Ich habe bereits einige Erfahrungen mit Traumata und kann gut damit umgehen. Zudem kannte ich die Frau nicht. Ich war nicht direkt betroffen.
Trotzdem hängt es mir mehr nach, als ich dachte. Mein Magen ist flau, ich konnte den Tag über nichts essen, bis zum Abend. Viele Gedanken wirbeln durch meinen Kopf. Selbst, wenn ich nicht darüber nachdenke, spüre ich es noch in den Gliedern. Das Zittern meiner Finger, der wachsame Blick.
Die Frau tat mir leid. Zuerst. Immer noch.
Doch sie war auch egoistisch. Ich bin mir sicher, dass es Selbstmord war. Sie war ja gesprungen, das hatte ich gesehen. Niemand war ihr nah genug gestanden, um sie hätte stoßen zu können.
Deswegen denke ich, sie war egoistisch. Sich eine Abkürzung aus dem Leben zu suchen, ist die eine Sache. Andere Leute mit hineinzuziehen, eine andere. Nicht nur den Bahnfahrer. Auch wir Passagiere. Vor allem diejenigen, die in ihrer Nähe gestanden haben. Nicht nur, weil sie es mit ansehen mussten - falls sie es denn gesehen haben. Sondern auch, weil viele sich Vorwürfe machen. Hätten sie etwas bemerken müssen? Hatte die Frau sich zuvor auffällig verhalten? Nervös soll sie gewesen sein - aber das hätte auch daran liegen können, dass die Bahn Verspätung hatte. Da war es nicht ganz ungewöhnlich, dass manche Leute unruhig wurden. Aber hätten sie vielleicht doch mit ihr reden sollen...?
Ein anderer Grund, weil die Polizei ausschließen musste, dass einer von ihnen ihr Mörder sein könnte. Das wurde mir erst später bewusst - vor allem, als die Kriminalpolizei mich anrief und für eine Befragung vorbei kam. Ich selbst stand nie im Verdacht, war ja auch viel zu weit entfernt von der Frau gestanden. Sie war am einen Ende der Haltestelle, ich stand ungefähr im mittleren Drittel. Die Beamten waren auch hier freundlich, stellten ihre Fragen, hörten aufmerksam zu und schenkten mit mitfühlende, ehrliche Blicke, wenn sie bemerkten, wie viel Kraft es mich doch kostete. Sie blieben geduldig und aufmerksam.
Wir alle gehörten doch nicht dazu.
So viel Verzweiflung.
Ich kann ihr nachfühlen. Mindestens ein wenig. Und es zerreist mir das Herz.
Doch für ihren Weg fehlt mir das Verständnis. Nicht nur das wie, sondern allein der Wunsch...
Ich werde niemals aufgeben, zu leben. Was auch immer mir das Leben schon in den Weg gestellt hat - und Gott weiß, dass es hart war - ich werde niemals die Abkürzung suchen.
Nach der härtesten Zeit in meinem Leben, hat auch die schönste begonnen. Und heute weiß ich, dass das wohl so hatte sein müssen. Der Schmerz gehörte zu meinem Wachsen dazu.
Eines meiner liebsten Zitate fällt mir wieder ein:
For a star to be born,
there is one thing, that must happen first:
A gaseous nebula must collapse.
So collapse.
Crumble.
This ist not your destruction.
This is your birth.*
Es gab Zeiten, in denen ich mich an die Worte geklammert habe. Nun blicke ich lächelnd zurück.
Ich weiß nicht, was die Frau letztendlich angetrieben hatte. Ich will es auch nicht wissen. Es ist ihr Leben, es geht mich nichts an. Und doch dreht es sich weiter in meinem Kopf...
Ein Leben, in einem Sprung, einem Atemzug, erloschen. Wofür?
*Der Autor/die Autorin des Zitats ist mir leider nicht bekannt.