In dem kleinen Dorf am Rande des Königreichs glaubte man an Magie und Zauberwesen. Doch nicht etwa an jene, die einem Wünsche erfüllen und das Leben einfacher gestalten würden. Auch nicht an jene, die für Wunder sorgten und die Kranken heilen könnten. Nein, man glaubte daran, dass der Wald, der unmittelbar an das Dorf grenzte, von Fae bewohnt war, denn warum sonst sollte er das ganze Jahr über in voller Blüte stehen und Menschen keinen Einlass gewähren? Man glaubte, dass die Fae gerissen waren, nichts Gutes wollten und mit den Menschen gerne ihren Spaß trieben.
Der Wald verhieß nichts Gutes und jeder wusste, dass man sich von ihm fernhalten sollte, wenn man etwas auf sein eigenes Leben gab. Sie lernten schon von Kindesbeinen an, in der Nähe des Waldes keinen Wunsch zu äußern und einfach so zu tun, als gäbe es ihn gar nicht.
Und so ging es auch über viele Jahrzehnte. Niemand verirrte sich in den Wald, niemand sprach auch nur von ihm oder sah in seine Richtung.
Doch mit Regeln und Kindern ist das immer so eine Sache, denn sie lieben es, eben jene Dinge zu tun, die man ihnen ausdrücklich verbietet. Und so begab es sich also, dass kindliche Naivität, Unschuld, Neugier und allen voran ein reines Herz zu einer neuen Tradition und vielleicht sogar zu einer neuen Freundschaft führten. Doch lest sie selbst, diese Geschichte eines etwas anderen Wunders.
Es war ein Wintermorgen wie jeder andere auch. In der Nacht war Schnee gefallen, der nun die Wälder und Felder des ganzen Landes unter einer dicken Schicht begrub und im Licht der strahlenden Sonne glitzerte.
Groß und Klein versammelte sich zum Eislaufen um den See, auf dem sich eine dicke Eisschicht gebildet hatte. Die wenigsten Dorfbewohner hatten Kufen unter den Schuhsohlen, doch an Spaß mangelte es keinesfalls. Kinder lachten und lieferten sich eifrige Rennen, während die Erwachsenen gar nicht damit hinterher kamen, ihre Kinder zur Vorsicht anzuhalten. Sie wollten nicht hören, zu groß war die Euphorie über den wunderschönen Tag, an dem die Zeit stillzustehen schien und man es sich leisten konnte, das Leben zu genießen.
Jene, die sich nicht der Barmherzigkeit der Eisdecke überlassen wollten, lieferten sich erbitterte Schneeballschlachten am Ufer des Sees. Von überallher tönte Kinderlachen und selbst die Dorfältesten vergaßen für einen Moment die Hektik des Seins.
Es war eine Szenerie des Lebens und der Überschwänglichkeit für alle Beteiligten. Und niemand bemerkte, dass sie vom Wald mit vor Neugier glitzernden Augen beobachtet wurden. Neugier. Verwunderung. Und Sehnsucht. All das wäre da zu sehen gewesen, wenn doch jemand danach gesucht hätte.
Einzig der kleine Caleb, der gerade den Schnee aus seiner Mütze klopfte, die ihm jemand in einem hinterhältigen Manöver auf den Kopf gesetzt hatte, blickte sich um. Er sah den Wald, dachte oft an ihn, denn sein Familienhaus war nur wenige Meter von ihm entfernt. Jede Nacht bevor er einschlafen konnte, sah er heimlich den Wald an, dessen Bäume majestätisch in die Höhe ragten, und jede Nacht fragte er sich, was wohl in ihm lebte. Doch er stellte diese Frage nicht, denn man sprach nicht über den Wald und seine Bewohner.
Manchmal, wenn seine Eltern nicht da waren und die Neugier ihn packte, ging er in den Wald – nur um zu sehen, wie weit er käme. Bisher kam er stets so weit, wie er wollte, obwohl er einst gehört hatte, der Wald ließe niemanden eintreten. Getroffen hatte er dort allerdings noch nie jemanden. Natürlich hatte es sich oft so angefühlt, als würde er beobachtet, doch er selbst konnte die Blicke nie erwidern.
Von Neugier getrieben ging er auch heute auf den Wald zu, die fragenden Zurufe seiner Freunde ignorierte er. Er suchte das Augenpaar, suchte zwischen Ästen und Zweigen, zwischen Sträuchern und Baumstämmen, doch im dichten Wald war nichts zu erkennen. Vielleicht hatte er sich das alles nur eingebildet? Ja, das musste es sein. Bei den Geschichten, die sich um den Wald vor ihm herumrankten, war das durchaus im Rahmen des Möglichen.
Die plötzliche Kälte, als ihn ein Schneeball mitten im Nacken traf, zog ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn beinahe vergessen, was er zu sehen geglaubt hatte. Beinahe.
Der Tag sollte wunderschön und lebhaft bleiben, sodass der Morgen zum Mittag und der Mittag zum frühen Abend wurde. Bald schon wurde von überallher Feuerholz in Calebs Garten getragen, der so groß war, dass sich das Dorf dort gerne versammelte. Seine Mutter machte jedes Jahr im Herbst einen wunderbaren Cider nach ihrem Geheimrezept, den die Dorfbewohner im Winter gerne heiß um ein großes Feuer sitzend genossen, während die Kinder im Schnee spielen konnten.
Ruhe und Frieden kehrte ein, doch Caleb bemerkte, wie seine Großmutter, die in drei Decken gehüllt auf dem bequemsten Stuhl am Feuer saß, immer wieder besorgt nach oben zu den Sternen blickte. Caleb folgte ihrem Blick und sah, dass sie heute ungewöhnlich hell leuchteten, dennoch schien ihm die Nacht ungewöhnlich dunkel. Ein Schauer durchfuhr ihn plötzlich, der nichts mit der Winterskälte zu tun hatte und er sah seine Großmutter fragend an.
„Was ist, Großmutter?”
Sie schenkte ihm ein Lächeln, das sehr weit entfernt wirkte, als wäre sie gar nicht anwesend. Es wirkte auch nicht sonderlich beruhigend. „Nichts, mein Kind. Es ist nur die Nacht der Nächte. Keine Nacht im Jahr ist so lang wie diese hier.”
„Die Nacht der Nächte?” fragte Caleb nach, als er sich mit einer Tasse heißem Tee neben sie setzte.
„Du weißt, dass die Nächte im Sommer kürzer sind als im Winter, ja?” Caleb nickte und sie fuhr fort. „Nun, dafür braucht es immer eine Nacht, die die längste ist und eine, die die kürzeste ist. Die Nacht der Nächte im Winter und den Tag der Tage im Sommer, da ist nämlich ein Tag länger als alle anderen.”
Calebs Augen wurden ganz groß und staunend trank er einen großen Schluck Tee, der ihm beinahe den Mund verbrannte. Er wollte seine Großmutter nicht unterbrechen, denn er hatte im Gefühl, dass sie ihm nun eine Geschichte erzählen würde und er liebte nichts mehr als Geschichten seiner Großmutter.
„Es heißt, in diesen beiden Nächten könnte man die Magie spüren.” Caleb konnte kaum fassen, was er da hörte. „Macht man in dieser Nacht jemandem ein Versprechen, so wird es eingehalten. Macht man jemandem ein Geschenk, so wird man auch eins bekommen. Und äußert man einen Wunsch, so wird er erfüllt. In dieser Nacht habe die Magie keinen Preis, wenn sie im Sinne der Kinder geschieht. Ganze Wunder könnten in dieser Nacht passieren. Doch man muss vorsichtig sein, denn die Magie hat ihren eigenen Willen und folgt nur diesem, wenn es ihr gerade passt.” Seine Großmutter seufzte und ihr Blick war nunmehr im Hier und Jetzt angekommen, als sie ihm ein trauriges Lächeln schenkte. „Als ich in deinem Alter war, mein Junge, haben wir uns in dieser Nacht kaum aus dem Haus getraut, doch nun sieh uns an. Hier sitzen wir, erzählen neue Geschichten; und die der Vergangenheit, voller Magie und Lehren, geraten in Vergessenheit.”
Caleb wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Plötzlich fiel ihm wieder ein, was er an diesem Morgen gesehen hatte und er zweifelte nicht mehr daran. Wenn seine Großmutter Recht hatte mit ihrer Geschichte, dann mochte er wirklich etwas im Wald gesehen haben. Schließlich hieß es, der Wald sei magisch. Dann müsste er ja heute Nacht vor Leben und Magie nur so sprießen. Genau wie Calebs Dorf.
„Glaubst du denn daran, Großmutter?” fragte er nach einiger Zeit leise.
„An Magie?” sie sah ihn an, schenkte ihm ein warmes Lächeln. Caleb nickte unsicher. „So sehr ich weiß, dass ich dich liebe, weiß ich, dass es Geschöpfe der Magie gibt.”
„Glaubst du…” er zögerte und trank noch einen Schluck Tee, um seine Frage hinauszuzögern, doch wenn seine Großmutter etwas war, dann war sie geduldig. Sie wartete, bis er bereit war, seine Frage zu stellen. „Glaubst du, dass das ein magischer Wald ist?” Er deutete mit einer vagen Handbewegung auf den großen finsteren Wald, der sich neben ihnen auftat.
Etwas glitzerte in den Augen seiner Großmutter und sie lehnte sich zu ihm, sprach ganz leise, als wäre es ihr Geheimnis: „Ich glaube, dass niemand ihn betreten konnte, seit ich ihn das letzte Mal vor sechzig Jahren verlassen habe. Ich glaube, dass ich dich einmal beobachtet habe, wie du in ihm verschwunden bist. Ich glaube, dass du die Gestalt heute Morgen auch gesehen hast. Und ich glaube, dass das deine Frage beantwortet.”
Die beiden starrten sich eine Weile stillschweigend an, während ihnen die Bedeutung dessen bewusst wurde, was sie gerade gesagt hatte. Sie schien selbst erschrocken über ihre Worte, während Calebs Augen immer größer wurden. Er fühlte sich ertappt, gescholten, beschämt. Doch er fühlte sich auch bestärkt, ermutigt und angetrieben. Da war ein Gefühl, das sich in ihm breit machte und es verlangte, dass er schnellstmöglich in den Wald gehen und sich der vor Magie nur so knisternden Nacht hingeben sollte. Denn er fühlte sie jetzt in jeder Faser seines Körpers und sie schien ihm die Luft zu rauben, so sehr erfüllte sie ihn.
Da spürte er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter und die tiefe, durchdringende Stimme seines Vaters. „Na, mein Junge, erzählt Mutter dir wieder Schauergeschichten, die die besten königlichen Geschichtenerzähler in den Schatten stellen könnten?” Er lachte und Caleb befürchtete für einen Augenblick, dass er alles mit anhören und ihm später schimpfen würde, doch in seinen Augen fand er nur stichelnden, liebevollen Humor und in seinen Händen einen Krug heißen Cider.
Da war er erleichtert, zwang sich aber ein Lachen ab und sagte, „Ich liebe doch aber ihre Geschichten.”
Die Hand verließ seine Schulter und fand sich stattdessen auf seiner Mütze wieder, als sein Vater ihm wohl durch das Haar streichen wollte, wie er es gerne hat. „Das tun wir doch alle, Caleb. Komm, hol dir und deiner Großmutter noch ein wenig Tee und frag deine Mutter, ob bei ihr alles in Ordnung ist. Ich will mich ein wenig zu meiner alten Dame hier setzen.”
Caleb sprang auf und eilte ins Haus, um die Tassen aufzufüllen, da trat ihm der süße Geruch der Kräuter in die Nase, die ihn so an den bunten Herbst erinnerten. Gemeinsam mit seiner Mutter hatte er damals die Kräuter gepflückt und getrocknet, sodass Caleb auch im kalten Winter seinen Lieblingstee trinken konnte. Einen Augenblick lang stand er nur da, das Gesicht über der Kanne, die auf einem kleinen Stövchen stand, sodass der Tee warm blieb, und atmete in tiefen Zügen. Er liebte diesen Tee und er liebte seine Mutter dafür, dass sie ihm jeden Tag eine Kanne davon kochte.
Da fielen ihm die Worte seiner Großmutter wieder ein: Macht man in dieser Nacht jemandem ein Versprechen, so wird es eingehalten. Macht man jemandem ein Geschenk, so wird man auch eins bekommen. Und äußert man einen Wunsch, so wird er erfüllt. In diesem Moment, als er in der warmen Stube stand, den köstlich süßen Duft des Tees in der Nase, und einen Moment der Stille genoss, während es draußen kalt und laut war, gab es für ihn kein schöneres Geschenk. Dieses Gefühl der Heimat, der Geborgenheit und der Besinnlichkeit, das ihn von innen heraus wärmte, wollte Caleb am liebsten mit der ganzen Welt teilen.
Er dachte zurück an den Morgen, an das Geschöpf, das da womöglich einsam gestanden und sie alle beobachtet hatte. Er dachte an den Wald, der groß und dunkel und von niemandem beachtet nur wenige Meter von seinem Garten entfernt stand. Und er dachte an die Wärme, an seine Familie und Freunde, und an den heißen Tee. Er dachte an Einsamkeit in der Dunkelheit und er dachte an Geborgenheit in der hellen Stube.
Später würde das alles sein, woran sich Caleb erinnert. Denn es waren diese Gefühle und das innerste Bedürfnis, die Liebe, die in ihm wohnte, zu teilen, die ihn zu dem motivierten, was nun folgen sollte.