Er schnappte sich die Kanne, die noch zur Hälfte mit Tee gefüllt war, stibitzte einen unbeobachteten Becher heißen Cider und schlich sich unbemerkt davon, auf in Richtung Wald. Je näher er ihm kam, desto mehr glaubte er etwas in der Luft zu spüren. Magie. Aufregung. Leben. Ob er es sich nur einbildete, konnte er nicht sagen, doch nichts lag ihm ferner als den Zauber zu durchbrechen. Sein Herz schlug ihm im Hals und er musste schwer schlucken, als er den ersten Fuß hinter die Schwelle des Waldes setzte. Doch der Wald ließ ihn nicht nur eintreten, er schien ihn sogar willkommen zu heißen.
Überall um ihn herum erschienen plötzlich Lichter, die durch die Lüfte tanzten und ihn neugierig umkreisten. Caleb war viel zu fasziniert um ängstlich zu sein und vergaß fast, warum er überhaupt gekommen war. Er ging immer tiefer in den Wald. Tiefer als er es je zuvor gewagt hatte, doch etwas zog ihn an. Er konnte nicht anders als seinen Füßen zu folgen.
Da sah er sie plötzlich. Sie sprangen von Baum zu Baum, ließen ihn nicht aus den Augen. Sie tanzten auf einer Lichtung und sangen Lieder, die Caleb noch nie zuvor gehört hatte. Sie glänzten, schienen gänzlich aus Licht und etwas Fremdartigem zu bestehen und Caleb konnte den Blick nicht abwenden. Er war gefangen, doch fühlte er sich so glücklich wie noch nie. „Komm, mein Kind,” schienen sie ihm zuzurufen, doch er sah niemanden sprechen. Die Stimmen existierten nur in seinem Kopf und er verstand nicht ganz, warum er ihnen Folge leistete. Doch er ergab sich. „Tanz mit uns,” sangen sie. „Sing mit uns. Spiel mit uns. Komm mit uns.”
Und Caleb wollte das tun. Er wollte tun, was immer sie sagten, auch wenn er nicht wusste, warum. Nebenbei bemerkte er, wie er die Kanne Tee und den heißen Cider, die beide trotz der kalten Winternacht noch immer dampften, fest umklammert hatte. Dumpf erinnerte er sich, dass er aus einem bestimmten Grund hier war, doch… was war dieser Grund? Liebe? Geborgenheit? Heimat? Es wollte ihm nicht einfallen…
Da stoppte plötzlich der Tanz, der Gesang erstickte und alles um ihn herum wurde still. Es dauerte einen Moment, da wurde auch Calebs Kopf wieder etwas klarer und er erkannte wieder, wo genau er sich befand und dass er überhaupt nicht wusste, wo er eigentlich war. Doch das war erst einmal zweitrangig, denn es war plötzlich still. Ein Wald war nie gänzlich still… Caleb sah sich um und erkannte zahlreiche Geschöpfe, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Zumindest vor dem heutigen Tage nicht, denn am Morgen hatte er schon einmal so etwas zu sehen geglaubt. Er hatte es sich also nicht eingebildet! Und Großmutter sagte, sie habe es auch gesehen!
Niemand sagte etwas und Caleb fehlten die Worte. Nichts konnte beschreiben, was er sah, und er versuchte es auch nicht erst. In ihren Blicken jedoch meinte er viel zu erkennen. Misstrauen. Verwunderung. Neugier. Sehnsucht.
„Du bist ein Menschenjunge,” ertönte da plötzlich eine Stimme. Eine, die nicht in seinem Kopf war, sondern die von hinter ihm kam. Caleb drehte sich um und eines der zauberhaften Geschöpfe schritt langsam und elegant auf ihn zu. Er glaubte es zu erkennen, doch er konnte sich nicht sicher sein. „Ein Menschenjunge… Du bist ein Kind reinen Herzens, wie ich es lange nicht sah. Sprich, was ist dein Begehr?”
Es dauerte einen Moment, bis Caleb merkte, dass ihm eine Frage gestellt wurde. Und es dauerte noch einen Moment länger, bis Caleb seine Sprache wiederfand. Er schluckte schwer und hob die schwere Teekanne, die seinen Arm schon schmerzen ließ.
„Ich…” er zögerte wieder. „Ich wollte Euch ein Geschenk machen.”
Ein Raunen ging durch den Wald und die warme Luft wurde plötzlich eiskalt. Die Kreaturen wirkten erbost, sie wirkten gefährlich, doch der Sprecher hob beschwichtigend die Hände. Sofort kehrte Ruhe ein.
„Ein Geschenk? Wieso? Weißt du nicht, was es bedeutet, den Fae ein Geschenk zu machen? Gerade in dieser Nacht. Es ist ein gefährliches Begehr, mein Kind. Du könntest mit etwas spielen, das du nicht kennst. Und Spiele sind immer gefährlich.”
Caleb schüttelte nur den Kopf und hoffte inständig, dass der Sprecher ihn verstand. „Großmutter sagt, dass diese Nacht besonders sei. Für Euch. Für uns nicht so sehr. Auch wenn es eine schöne Nacht ist. Und besondere Dinge muss man würdigen. Für mich ist dieser Tee hier besonders, weil er mich an meine Mutter und mein Zuhause erinnert und mich gut fühlen lässt. Und ich wünsche mir einfach,” der Wald schien den Atem anzuhalten und Caleb stolperte über dieses Wort, doch tapfer sprach er weiter, „dass Ihr mein Geschenk annehmt und dass Euch der Tee mindestens so gut schmeckt wie mir.”
Stille.
Endlose, durchdringende Stille, und für einen Moment breitete sich Furcht in Caleb aus.
„Wenn das dein Wunsch ist, Menschenjunge,” begann der Sprecher nach einer Weile, „was willst du als Gegenleistung.”
„Gar nichts.”
„Es gibt immer eine Gegenleistung,” widersprach er und der Wald schien ihm zuzustimmen, denn es wurde wieder unruhig und beinahe unbehaglich.
Doch Caleb meinte es ernst und schüttelte wieder den Kopf. Ihm fielen die Worte seiner Großmutter wieder ein. Versprechen. Er musste es ihnen versprechen, wenn er wollte, dass sie ihm glaubten. „Ich verspreche Euch,” wieder hielt der Wald die Luft an, wieder stolperte er über das Wort und wieder sprach er trotzdem weiter. „Ihr müsst keine Gegenleistung erbringen.”
Die nächsten Augenblicke vergingen wie in einer Art Trance. Caleb wusste nicht wie ihm geschah, als das belebende, ekstatische, betäubende Gefühl der Magie um ihn herum plötzlich so stark wurde wie nie zuvor. Die Luft schien zu knistern, das Leuchten wurde heller und sein Herz schlug so schnell wie nie zuvor. Nur dumpf bekam er mit, wie der Sprecher von dem Tee trank, ohne Caleb aus den Augen zu lassen. Wie sie alle Tee und Cider tranken, ohne dass Krug oder Kanne leer wurden. Wie der Wald ihn zu umarmen schien, wie er ein Teil der Szenerie wurde… und wie er plötzlich müde wurde. Doch statt auf den weichen Waldboden zu fallen, spürte er Arme um sich und alles wurde dunkel.
Am nächsten Morgen wachte er in seinem dicken Federbett auf.
Zunächst dachte Caleb, er hätte das alles nur geträumt, doch dann fragte Mutter, wo er letzte Nacht gewesen sei und ob er die Teekanne gesehen habe. Da beschlich ihn das geheimnisvoll magische Gefühl und er lief sogleich zu seiner Großmutter, um ihr alles zu erzählen. Doch sie kam ihm mit dem Erzählen zuvor.
„Caleb, mein Kind! Es ist ein Wunder!” Sie saß am großen Esstisch beim Kamin, vor ihr ein noch heißer, nach Zimt duftender Bratapfel, den sie aber ignorierte, um lieber mit ihrem Enkel zu reden.
„Was ist ein Wunder?” wollte er begeistert wissen.
„Überall im Dorf tauchen plötzlich Geschenke auf. Vorratskammern sind mit den köstlichsten Speisen gefüllt. Obst, Gemüse, Fleisch, Getreide, Wein, frisches Wasser. Tee. Ganz viel Tee, überall! Es ist ein Wunder!”
Caleb kam aus dem Staunen nicht mehr raus, als er seiner Großmutter in die eigene Vorratskammer folgte, die brechend voll war - selbst mit Dingen, die man im Winter gar nicht bekommen konnte.
Schnell zog Caleb sich seine dicken Kleider an und rannte nach draußen. Auf den Straßen fielen sich die Leute weinend in die Arme und jubelten. Er rannte durch das Dorf, klopfte an jeder Tür und wünschte allen einen wunderschönen Tag. Die armen Familien und die mit vielen Kindern hatten am meisten bekommen. Später traf man sich, machte sich Geschenke, tauschte und bereitete ein Festmahl vor. Vorher jedoch lief Caleb zurück zum Haus, brühte noch eine Kanne Tee auf, und brachte sie in den Wald. Diesmal lief er nicht so weit hinein, schließlich wollte er wissen, wer noch von dem Wunder betroffen war. Neben die Kanne legte er einen Brief in den Schnee, in dem in schwerfälliger, unsicherer Handschrift geschrieben stand:
Ich werde Euch nicht danken, denn etwas sagt mir, Ihr wollt das nicht. Ich denke es mir eben einfach. Und gebe euch noch mehr Tee. Lasst es euch schmecken.
Oh, und ich brauche bitte die Kannen zurück.
C
Fortan sollte Caleb jedes Jahr am Tag nach der Wintersonnenwende eine Teekanne mehr bekommen. Das gesamte Dorf würde eine gute Ernte und keinen Grund zur Armut haben. Eine Tat reinen Herzens wird immer belohnt.
Der Wald sollte weiterhin unberührt bleiben und es sollte weitere Dekaden dauern, bis sich Fae und Menschen vertrauten, doch es entwickelte sich eine Art der geheimen Freundschaft zwischen Fae und Kindern, die einander nicht unähnlich waren. An das Wunder zur Nacht der Nächte gewöhnte man sich nie, auch die Dankbarkeit wuchs stetig, und mit jedem Jahr gaben die Menschen immer mehr zurück.
Es zog ein innerer Frieden in das Dorf ein und jeder hielt sich an das unausgesprochene Versprechen, niemandem außerhalb des Dorfes etwas davon zu erzählen.
Fortan sollten nur Menschen reinen Herzens das Dorf betreten können. Ein weiteres unausgesprochenes Versprechen. Ein weiteres Wunder.