Wichtelaktion: https://belletristica.com/de/books/20022-valentinstagswichteln-2020/ von Marvin D. Graue
Das Schicksal hat ergeben, dass ich einen Text für MazedMind (https://belletristica.com/de/users/1937-mazedmind#profile) schreibe:
Modus: Valentinstag
Genre: (Dark) Fantasy
Stichwörter: Frucht, Waffe, LGBT+
Rating: gerne 18+
***
Seine tiefliegenden Augen wanderten beständig durch die Menge. Wie jeden Abend hatten sich zahlreiche Menschen in dieser Taverne versammelt, um zu trinken und ihr Leben zu feiern.
Ihr Leben! Damian lachte bitter in sich hinein. Was gab es daran schon zu feiern. Die meisten von ihnen folgten stumpfsinnig der Herde, lernten, was ihre Eltern ihnen beibrachten, heirateten, bekamen Kinder, dann Enkel, und dann war meist auch schon wieder alles vorbei. Für Damian waren sie nicht viel mehr als Nutzvieh. Er nahm ihnen, was er wollte, wenn es ihn danach verlangte – sie konnten sich danach ohnehin nicht mehr an ihn erinnern. Das Einzige, was er ihnen zugestand, war, dass sie überlebten. Samantha hätte ihm nie verziehen, wenn er wieder anfangen würde, sie völlig auszusaugen ...
Der Gedanke an Samantha fuhr ihm auch nach all den Jahren noch wie ein Stich ins Herz, und rasch verdrängte er die aufsteigenden Erinnerungen. Er war durstig, darum musste er sich kümmern. Doch er hatte noch nicht gefunden, was er suchte.
Obwohl die Taverne hier, in der großen Stadt, direkt am bedeutenden Marktplatz lag und sehr viele Durchreisende in dieser bekannten Gaststube Halt machten, war es oft schwer, einen Menschen zu finden, der seine Anforderungen erfüllte.
Die erste Zeit nach Samanthas Tod hatte er sich auf Frauen beschränkt – die, die flammend rotes Haar hatten und es trugen, wie sie es getragen hatte. Die waren es, die er angesprochen, die er mit seinem Charme verführt hatte, damit sie ihm in sein Zimmer folgten. Das war leicht – er wirkte die Magie, die seine Spezies für Menschen so unwiderstehlich machte, zwar unbewusst, doch er nutzte diese Fähigkeit mit Freuden. Und wenn die Frauen sich ihm dann hingegeben hatten, er seinen Durst mit ihrem Blut gestillt hatte, wurden die Erinnerungen an Samantha fast wieder lebendig ...
Manchmal, wenn die Frau auch noch ihren Körperbau hatte, ihre Größe, versuchte er auch, mehr zu bekommen. Er hatte ihr vor langer Zeit versprochen, nie wieder Menschen zu Dingen zu zwingen, die sie nicht wollten, und er hielt sich eisern daran. Doch wenn die Frauen willig waren ... Wenn er sie von hinten nahm, wenn er ihr Gesicht dabei nicht sah, war es fast, als sei sie wieder bei ihm. Nur diese wenigen Stunden waren es, in denen er frei war von der Trauer, die sonst sein ganzes Leben bestimmte.
Doch solche Frauen zu finden war schwierig. Er fand nicht ausreichend viele, um zu überleben. Seit einigen Jahren genügte ihm daher, wenn ihn irgendetwas an der Person an seine Geliebte erinnerte. Seit einigen Monaten nahm er sich sogar Männer, um seinen Durst zu stillen. Rothaarige Männer natürlich.
Endlich erblickte er einen leuchtend roten Haarschopf in der Menge. Ganz am anderen Ende des Raumes – die Person war gerade erst eingetreten. Noch konnte er sie nicht genau erkennen, doch er hatte Zeit. Er wartete geduldig, ganz das Raubtier, das in ihm lauerte.
Es war ein Mann, wie Damian nach einiger Zeit feststellte. Schade, denn in ihm nagte neben dem Durst auch der Hunger nach mehr ... Eine willige Frau wäre ihm lieber gewesen. Sie hätte beide Bedürfnisse befriedigen können. Aber er war so durstig, dass er es sich nicht leisten konnte, wählerisch zu sein.
Der Rotschopf war mit einigen anderen Leuten in einer Gruppe unterwegs, sodass es nicht allzu einfach war, ihn anzusprechen. Doch wenn ein Wesen wie Damian über etwas verfügte, dann Geduld. Man überdauerte nicht Jahrhunderte, wenn man nicht warten konnte.
Nach gut zwei Stunden war es endlich so weit: Das Ziel seiner Begierde erhob sich und schlug den Weg zur Hintertür ein. Ganz sicher war er auf dem Weg zum Abort. Damian gewährte ihm einige Augenblicke Vorsprung, bevor er ihm folgte.
Der Hof war dunkel, nur eine schwache Laterne hing über der Tür zum Abtritt. Damian störte das nicht – seine Augen konnten auch in vollständiger Finsternis noch sehen, seiner Beute nachspüren. Er roch genau, dass hier vor Kurzem ein Mann vorbeigekommen war – und der Körpergeruch, den seine Nase noch in der Luft fand, erregte seine Sinne. Das Raubtier in ihm erwachte und verlangte, dass er endlich seinen Durst stillte – vollständig, nicht nur so viel, dass es zum Überleben reichte. Es kostete ihn viel Willenskraft, das Biest in Zaum zu halten.
Die Tür unter der Laterne öffnete sich und seine Beute trat ins Freie. Ein Schwall unangenehmer Gerüche erreichte Damians Nase, und doch spürte er den einzelnen Duftnoten nach, bis er ganz klar den Eigengeruch des Mannes identifizieren konnte. Das Tier in ihm jaulte vor freudiger Erwartung, seine Sinne wurden schärfer und seine Muskeln spannten sich.
Er trat dem Rotschopf an der dunkelsten Stelle des Hofs in den Weg, sodass der beinahe gegen ihn prallte.
Ein angenehmes Lachen. „Oh, entschuldige. Hab dich fast übersehen.“
Das Lachen ließ die Bestie in Damians Inneren aufheulen vor Verlangen. Damian konnte nicht warten, bis sie in seinem Zimmer angelangt waren. Er würde es hier und jetzt tun – in diesem dunklen Hof würde sie niemand entdecken!
„Kein Problem“, antwortete Damian leise. Er wusste, welche Wirkung seine Stimme entfalten konnte, und wie zu erwarten stockte der andere in seiner Bewegung.
„Wer bist du?“, fragte er verunsichert, doch Damian ließ ihm keine Zeit, weitere klare Gedanken zu fassen.
„Komm mit mir“, forderte er den Mann auf, legte ihm eine Hand auf die Schulter und dirigierte ihn in die dunkelste Ecke des Hofs. Der Rotschopf folgte ihm widerstandslos, wie er mit einem Lächeln auf den Lippen feststellte, das seine Fangzähne zeigte. Dass die bereits vollständig freilagen, machte deutlich, wie nahe er daran war, die Kontrolle zu verlieren. Er musste schnell handeln.
Kaum waren sie an der ausgewählten Stelle angelangt, drückte Damian seine Beute mit seinem Körper an die Hauswand. Der Mann ließ es ohne Gegenwehr geschehen, legte seine Arme um Damians Schultern, keuchte leise, als dessen Hand das rote Haar beiseite strich, um die Halsbeuge freizulegen. Damian senkte seine Lippen auf die Haut über der verlockend pulsierenden Schlagader, halb wahnsinnig vom Geruch seiner Beute, und versenkte seine Fangzähne. Warmes, köstliches Blut schoss ihm entgegen, in Schüben, deren Rhythmus der beschleunigte Herzschlag seines Opfers vorgab, füllte seinen Mund, benetzte seine Zunge, und der Geschmack erfüllte all seine Sinne. Er spürte, wie mit jedem Schluck Stärke in ihn zurückkehrte, wie sich Aufregung in ihm ausbreitete, wie das Biest in ihm nach mehr verlangte, mehr und immer mehr!
Ein leises Stöhnen des Mannes in seinen Armen rief ihn in die Gegenwart zurück, und wie ein Blitz stand ihm Samanthas Gesicht vor Augen, ihre Stimme erklang wieder in seinem Kopf: „Du darfst sie nicht töten – das ist falsch, Liebster. Nimm, was du brauchst, aber bring sie nicht um – für mich. Willst du das für mich tun?“
Es kostete ihn unglaubliche Kraft, seine Lippen vom Hals des Mannes zu lösen. Es war noch Blut in ihm, viel Blut, köstliches Blut, aber Damian durfte nicht weitermachen ... er hatte es versprochen! Keuchend leckte er über die Wunde, die seine Zähne hinterlassen hatten, heilte damit die Verletzung und säuberte den Hals des Rotschopfs von Spuren seiner Tat. Dann erlaubte er sich einen Augenblick Entspannung, lehnte sich an seine Beute, die immer noch zwischen ihm und der Hauswand eingeklemmt war, und versuchte, seinen beschleunigten Atem zu beruhigen.
Er war überrascht, als die Hände des Mannes von seinen Schultern seinen Rücken hinunterglitten, sich auf seine Hüfte legten und ihn näher zu sich zogen. Noch überraschter war er, als er durch den Stoff ihrer Kleidung spürte, dass ... Das konnte doch nicht wahr sein! Aber es gab keinen Zweifel: Der Rotschopf war erregt. Er wollte Damian mehr geben als nur sein Blut ...
Der Vampir erstarrte, als ihm bewusst wurde, in welch abstruser Situation er sich befand. Normalerweise war er es, der sein Opfer verführte, doch jetzt gerade war es eher umgekehrt! Noch nie hatte Damian darüber nachgedacht, ob er auch mit einem Mann den Hunger nach Intimität, der in ihm brodelte, stillen könnte ... Aber das war doch absurd! Wie sollte er – nein. Nein!
„He da!“, ertönte eine scharfe Stimme von Gasthaus her.
Zum ersten Mal in seiner langen Existenz war er froh darüber, plötzlich gestört zu werden. Lässig trat er von seinem Opfer zurück, das verwirrt in Richtung der Stimme sah.
Eine der Begleiterinnen des Rotschopfs kam zu ihnen herüber, eine Laterne in der Hand. Vor Damian blieb sie stehen, funkelte ihn an. „Was wird das hier?“
„Nichts. Ich habe dem guten Herrn geholfen, sich an die Wand zu lehnen, er scheint ein wenig zu viel Bier getrunken zu haben.“
Erst, als seine Worte den Zorn in den Augen der Frau noch verstärkten, wurde Damian bewusst, was für einen gigantischen Fehler er begangen hatte. Er war unachtsam gewesen – wie sonst hatten ihm all die klaren Anzeichen entgehen können?
Die Frau war eine Hexe – genau wie Samantha eine gewesen war. Er konnte sie nicht bezirzen, ganz im Gegenteil – er musste zusehen, dass er schleunigst floh! Sie konnte ihn vernichten, sie würde ihn vernichten, wenn sie erkannte, was er war, wenn sie –
Mit einen wenigen gemurmelten Worten unterbrach die Hexe Damians Fluchtgedanken. Es musste ein Bindezauber sein, denn er konnte sich nicht mehr rühren – seine Erkenntnis war zu spät gekommen!
Während die Hexe ihren Begleiter untersuchte, versuchte der Vampir, sich zu befreien, lehnte sich gegen den Bindezauber auf, strengte all seine Kraft an, um zu flüchten. Doch selbst die ihm innewohnende Magie konnte nichts gegen die Macht dieser Hexe ausrichten – sie musste stark sein. Alt und stark. Vielleicht älter als er selbst.
Dann war’s das wohl. Die Erkenntnis traf Damian hart, doch nach einem Moment empfand er einen seltsamen Trost bei dem Gedanken, dass die Frau ihn töten würde. So hatte auch seine Trauer ein Ende. Vielleicht würde seine Seele ja Samanthas Seele finden ... Er gab auf.
Dann murmelte die Hexe erneut einen Zauber, und Damians Wahrnehmung endete.
~~~
Die Hexe stand direkt vor ihm und sah ihm prüfend ins Gesicht.
Warum existierte er noch?
Er wollte sie fragen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Er konnte nicht sprechen, nur blinzeln.
Sie nickte zufrieden. „Setz dich auf den Stuhl“, befahl sie ihm und deutete auf eine Ecke, in der ein Tisch mit allerlei Hexenwerk darauf sowie zwei hochlehnige Sitzmöbel standen. Ohne zu zögern, setzte er sich in Bewegung, zog einer der beiden Stühle zu sich heran und nahm Platz. Innerlich staunte er – so fühlte es sich also an, wenn der eigene Wille beherrscht wurde. Er konnte das auch, doch es war ihm noch nie widerfahren – die Frau musste eine wirklich mächtige Hexe sein! Hatte sie auch seine Sinne ausgeschaltet oder hatte sie ihm befohlen, zu vergessen, was seit ihrer Begegnung im Hof geschehen war? Wo waren sie eigentlich? Was wollte sie von ihm?
„Du bist ein seltsamer Blutsauger“, begann die Hexe plötzlich, mit ihm zu sprechen. Sie musterte ihn dabei wie ein fremdartiges Insekt – ein Blick, der ihn verärgerte. Ob das in ihrer Absicht lag? „Warum hast du Mark am Leben gelassen?“
Sie wusste also, dass er von ihm getrunken hatte? Vermutlich sollte er noch ihre Neugier befriedigen, bevor sie ihn tötete. Er schwieg.
„Deine Art nimmt sich doch für gewöhnlich alles, oder nicht? Was hat eine ehrlose Kreatur wie dich dazu veranlasst, meinen Vetter nur anzuknabbern? Hattest du vor, dich noch an ihm zu vergehen, bevor du dir den Rest als Nachtisch schmecken lässt?“ Sie sah ihn lauernd an, wartete. Er dachte nicht daran, ihr irgendeine Auskunft zu erteilen.
„Antworte!“, schrie sie nach einigen Momenten des Schweigens. In ihrem Blick flammte wieder Wut auf – Damian spürte, dass sie kurz davor war, ihn aus bloßem Hass zu töten. Vielleicht sollte er sie weiter reizen und das Ganze so endlich beenden ...
Sie sah ihn weiterhin erwartungsvoll an – und da spürte Damian die Wirkung ihrer Magie. In ihm erwuchs der Wunsch, mit ihr zu reden. Er sträubte sich dagegen, wehrte sich, versuchte verzweifelt, seine Lippen geschlossen zu halten.
Sie hob anerkennend eine Augenbraue. „Du musst alt sein, Blutsauger. So lange hat noch niemand meinem Befehl widerstanden. Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, dich vom Antlitz dieser Welt zu entfernen!“
Er versuchte es weiter, doch nach einiger Zeit konnte er nicht verhindern, dass er sprach. Verdammt! „Ich töte keine Menschen“, sagte er keuchend, immer noch verbissen gegen den magischen Bann ankämpfend. „Ich habe es versprochen. Und ich habe noch nie mit einem Mann ... warum sollte ich?“
Die Hexe lächelte spöttisch. „Versprochen. Natürlich. Wem willst du denn solch ein Versprechen gegeben haben? Und dass du es noch nie getan hast, bedeutet gar nichts.“
Er knurrte sie böse an, bevor er gegen seinen Willen wieder antwortete. „Samantha.“
„Und wer ist das?“
„Sie war meine Gefährtin“, gab er zwischen zusammengebissenen Zähnen zurück.
Die Hexe seufzte entnervt. „Wenn du dir alles aus der Nase ziehen lässt, sehe ich es mir eben selbst an.“ Und ohne weitere Vorwarnung legte sie ihm beide Hände an die Schläfen, murmelte Worte und zwang ihn, genau das wieder zu erleben, was er so verzweifelt zu vergessen suchte.
„Es ist riskant!“ Mit vor der Brust gekreuzten Armen stand er vor seiner Liebsten im Türrahmen.
Sie lachte fröhlich. „Ach, Damian! Sie ist auch nur eine Frau, die Hilfe braucht – komm schon, lass mich endlich gehen. Sonst komme ich noch zu spät und das Kind ist vor mir da!“
Das nachsichtige Lächeln auf ihren Lippen stürzte ihn in einen tiefen Zwiespalt. Er wollte ihr so gerne ihren Willen lassen – wie konnte er ihr, seiner Liebsten, denn irgendetwas abschlagen? Andererseits war die Fürstin dafür bekannt, Hexen zu verfolgen. Samantha sollte sich nicht in solch eine Gefahr begeben!
„Du sorgst dich, das weiß ich“, sagte sie sanft, stellte ihre Tasche auf den Boden und legte ihm die Arme um den Hals. „Aber das Kind kann doch nichts für seine Mutter. Es braucht Hilfe – es geht ihm nicht gut, das weiß ich. Und wenn ich wirklich Magie anwenden muss und es herauskommt – glaubst du wirklich, sie würde die Retterin ihres eigenen Kindes töten? Bestimmt nicht!“
Er wollte widersprechen, doch er versank einfach in ihren wunderbaren, tiefgrünen Augen, und als er dann ihre warmen, weichen Lippen auf seinen spürte, schmolz sein Widerstand einfach dahin. Er umfasste ihre Taille, zog sie an sich, küsste sie mit aller Liebe, die er für sie empfand, genoss die Wärme ihres Körpers an seinem, vergaß für einen Augenblick, warum er hier stand.
„Ich bin bald zurück“, flüsterte sie in sein Ohr, als sie sich wieder voneinander gelöst hatten. „Du wirst sehen, alles wird gut! Und du weißt ja, was dich dann erwartet ...“
Mit einem verheißungsvollen Lächeln und einem Zwinkern nahm sie ihre Tasche auf, schob sich mit einem letzten Kuss auf seine Wange an ihm vorbei und ging hinaus ins helle Sonnenlicht, wohin er ihr nicht folgen konnte.
Er wusste, was ihn nach ihrer Rückkehr erwartete, oh ja. Sie würden sich lieben. Sie würde sich ihm in ihrem gemeinsamen Bett hingeben, so wie fast jede Nacht, und ihm erlauben, von ihr zu trinken. Nur ein wenig, gerade so viel, wie er bis zum Folgetag brauchte – doch das genügte ihm völlig. Ihr Blut war einzigartig. Doch sie gab es ihm nicht nur, um andere Menschen vor ihm zu schützen, sondern vor allem, weil sie ihn liebte. Das wusste er mit unerschütterlicher Sicherheit. Sie waren beide alt genug, um zu wissen, was sie wollten und wen sie wollten. Und sie wollten einander – seit über dreihundert Jahren.
Seufzend zog er sich ins Haus zurück und wartete.
Und wartete.
Doch sie kehrte nicht zurück.
Wer stattdessen kam, waren die Soldaten der Fürstin. Sie stürmten in sein Haus, umringten ihn, zogen ihre Waffen. Mit einem gehässigen Lachen trat ihr Anführer vor.
„Jetzt geht es dir an den Kragen, Hexer! Um deine Frau haben wir uns schon gekümmert!“
Die Soldaten ahnten nicht, wie falsch sie lagen. Es war das einzige Mal, dass Damian das Versprechen seiner Liebsten gegenüber brach. Samanthas Tod ließ ihn alle Vorsicht, alle Rücksicht vergessen, er ließ dem Raubtier in sich freien Lauf, zog sich zurück und beobachtete, wie es seine Rache vollstreckte und die Soldaten niedermetzelte. Ihre Waffen schlugen Wunden in seinen Körper, die nicht bluteten, die heilten, als er sie einen nach dem anderen niederschlug, aussaugte, tötete. Sie waren nur zu sechst – keine große Herausforderung für einen knapp fünfhundert Jahre alten Vampir ...
Tränen liefen über sein Gesicht, als die Hexe endlich aus seinen Erinnerungen verschwand.
Zu seiner Überraschung zeigte ihr Gesicht Erstaunen, nicht Abscheu oder Hohn. „Samantha die Heilerin“, murmelte sie ehrfürchtig. „Ihr seid der, den sie gezähmt hat.“
Er lachte humorlos auf. „Gezähmt!“, spuckte er ihr das Wort förmlich vor die Füße. Es bedurfte nicht mehr, um seiner Verachtung Ausdruck zu verleihen.
Doch die Hexe reagierte nicht, sondern starrte ihn weiterhin ungläubig an. „Ich habe eine Vision von ihr gehabt, Vampir. Vor wenigen Tagen.“
Schlagartig war all seine Verachtung verflogen. „Was hast du gesehen, Hexe?“
„Sie ist wiedergeboren worden, Damian. Nur ihre Seele erinnert sich, nicht ihr neues Selbst, aber sie sucht nach Euch ...“
„Wo?“, flüsterte er. „Bitte ... lasst mich gehen. Ich halte mich an das Versprechen, das ich ihr einst gab, das wisst Ihr.“
Und zu seiner unendlichen Erleichterung gab die Hexe ihn tatsächlich frei. Sie nannte ihm den Namen des Orts, den sie in ihrer Vision erblickt hatte, und ohne ein weiteres Wort machte Damian sich auf den Weg.
~~~
Zwei Wochen befand Damian sich nun bereits in der kleinen Stadt, die zwölf Nachtreisen flussaufwärts seines bisherigen Wohnorts lag. Seit seiner Ankunft suchte er Samantha – vergebens. Durst und Hunger nagten an ihm, genau wie aufkeimende Zweifel an der Vision der Hexe.
Hatte sie sich getäuscht? Hatte sie ihn belogen? Wollte sie ihn einfach nur loswerden? Oder hatte sie sich gar einen Spaß daraus gemacht, seine begrabenen Hoffnungen wiederzuerwecken und zu beobachten, wie er vollständig zerbrach?
Wut erfüllte ihn. Wut, Frustration und Verzweiflung. Es konnte nicht mehr viele Frauen in diesem Städtchen geben, die er nicht in Augenschein genommen hatte – aber nichts an ihnen, an keiner von ihnen, erinnerte auch nur im Entferntesten an Samantha. Doch musste es das überhaupt? Erhielt eine Wiedergeburt Eigenschaften des Körpers zurück, den die Seele zuvor bewohnte? Er hätte die Hexe fragen sollen, bevor er Hals über Kopf aufgebrochen war!
Frustriert fuhr er mit einer Hand über die wieder viel zu tief liegenden Augen. Seine Finger zitterten leicht – er sollte, nein, er musste auf die Jagd gehen. Er brauchte so dringend Blut wie selten zuvor – er war so geschwächt, dass sogar das Aufstehen ihm Mühe bereitete. Weit würde er so nicht kommen ... Er würde sich wohl auf den Schankraum des Gasthauses beschränken müssen, in dem er sein Zimmer hatte. Und vermutlich würde er sich eine Beute suchen müssen, die nicht seinen gewohnten Anforderungen entsprach. Aber er würde alles tun, um Samantha wiederzufinden, also schleppte er sich hinunter und bestellte beim Wirt ein Bier, mit dem er sich in die hinterste Ecke des Schankraums verzog und sich dort auf die Lauer legte.
Genau, wie er erwartet hatte, war dieses Gasthaus nicht besonders gut besucht. Nur wenige Neuankömmlinge kamen in der nächsten Stunde hinzu, die meisten in Gruppen, was die Jagd in Damians geschwächtem Zustand erheblich erschwerte.
Der Vampir war drauf und dran, sich zu einer der kleineren Runden zu setzen, als zu später Stunde eine weitere Schar Menschen eintraf. Fünf junge Leute, darunter ein Mann, dessen Haar so feuerrot leuchtete, dass es Damian sofort in seinen Bann zog. Er hatte seine Beute gefunden, und die Aussicht, doch nicht von seinen Ansprüchen abweichen zu müssen, gab ihm die nötige zusätzliche Kraft, um die Warterei noch etwas länger auszuhalten.
Erheblich länger, wie sich herausstellte. Die fünf waren hier, um zu Abend zu essen, und sie genossen ihr Beisammensein sichtlich. Nicht, dass Damian Nahrung benötigte, aber ihnen dabei zuzusehen, wie sie zuerst Suppe, dann sogar noch Brot und Käse, zum Abschluss dann Äpfel genossen, steigerte dennoch seinen Durst. Es dauerte zwei, vielleicht drei weitere Stunden, bis die ersten begannen, sich zu verabschieden. Als die letzten beiden, darunter seine Beute, sich erhoben, tat Damian es ihnen gleich. Während der andere seine Rechnung beim Wirt beglich, starrte Damian intensiv in die Richtung des Rotschopfs, befahl ihm in Gedanken, zu ihm herüberzusehen. Und als der es tat, bedeutete er ihm mit einer Geste, zu ihm zu kommen.
Damian wusste, dass es Zwang war, den er auf den jungen Mann ausübte, doch er fühlte sich körperlich so hilflos, dass ihm nichts anderes übrig blieb, darauf zurückzugreifen. Er würde seine Beute nicht töten, das schwor er sich, aber er würde heute keine Rücksicht darauf nehmen, ob das Blut freiwillig gegeben wurde oder nicht. Gewiss, dass der Mann ihm folgen würde, schleppte er sich die Stufen zu seinem Zimmer hinauf.
Kaum hatte der Rotschopf den Raum betreten, schloss Damian die Tür, hinter der er sich sicherheitshalber verborgen hatte, und schob die Beute mit dem Gesicht an die nächste Wand. Hastig bog er den Kopf des Rotschopfs zurück, versenkte seine Zähne in dessen Hals und nahm gierig die ersten Schlucke.
Und verschluckte sich vor Schreck, als er den Unterschied bemerkte. Hustend trat er einen Schritt zurück, um Luft ringend und mit Panik im Blick. Der Mann war ein Hexer! Er musste es sein, denn sein Blut gab Damian ungewöhnlich viel Kraft zurück. Wie war das möglich? Hexen ließen sich nicht zwingen ...
Es musste eine Falle sein. Vermutlich hatte nur das Überraschungsmoment dafür gesorgt, dass er überhaupt an den Mann herangekommen war. Damian war immer noch zu schwach, um sich zu wehren. Er konnte nicht so viel Glück haben wie bei seiner letzten Begegnung mit einer Hexe.
Diesmal war es wirklich aus.
Da Flucht sinnlos war, ergab er sich in sein Schicksal, während der Hexer sich zu ihm umdrehte.
Tiefgrüne Augen versenkten sich in die von Damian. Für eine gefühlte Ewigkeit sprach keiner der beiden ein Wort.
„Du hast noch nicht genug, Vampir“, unterbrach der junge Hexer dann die Stille. „Du wirst mich nicht töten, nicht wahr?“ Er war sich seiner Sache so gewiss, dass er auffordernd den Kopf zurückbog und Damian seinen immer noch blutenden Hals anbot.
Alles in ihm schrie Warnungen vor einer Falle, jedes Fünkchen logischer Verstand riet ihm, zu fliehen, doch der Anblick des immer noch aus den Wunden quellenden Bluts zog ihn zu sehr an. Langsam, vorsichtig näherte er sich dem geduldig wartenden Hexer, bevor er seinen Mund wieder an dessen Hals legte und einige weitere Schlucke nahm, die Wunde danach sorgfältig heilte.
Dann begegneten sich ihre Blicke.
„Ich kenne dich“, flüsterte der junge Mann vor Damian verständnislos.
Der nickte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste nicht, wie er mit seinem Verdacht umgehen sollte. War das möglich?
„Wie heißt du?“, fragte der Vampir. Er spürte einen Kloß im Hals.
„Sam“, antwortete der Hexer leise.
Die Atmosphäre war seltsam. Sie standen sich immer noch viel zu nah gegenüber, konnten sich nicht vom Blick des jeweils anderen lösen, und Damian wusste einfach nicht, was er fühlen sollte.
Samantha war wiedergeboren worden. Als Sam. Als Mann. Wie Damian auch einer war. Das war aber doch nicht richtig ... oder? Konnte er einen Mann lieben? Seelisch würde er das können, da war er sich sicher – er liebte Samantha als Person, ihre Eigenheiten, ihre Art, ihren Verstand und ihren Humor. Er liebte ihr rotes Haar, mit dem seine Finger gerne spielten. Er liebte den Blick aus ihren grünen Augen – den Blick, dem er sich nun, nach so langer Zeit, wieder ausgesetzt sah ... Aber er hatte Samantha auch körperlich begehrt. Das war ihm bei einem Mann noch nie passiert. Wie würde er seine körperlichen Bedürfnisse befriedigen, wenn er eine platonische Beziehung zu einem Mann einging? Was würde er tun, wenn –
„Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?“, fragte Sam und unterbrach damit Damians sich überschlagende Gedanken. „Ich habe dich unten sitzen sehen und wusste, dass ich dich kennenlernen musste. Du warst so vertraut ... Ich kann das gar nicht erklären. Wie heißt du?“
„Damian“, hauchte der Vampir. Er fühlte sich immer noch so hin- und hergerissen, er wusste nicht, was er denken, was er fühlen sollte. Samantha war ein Mann. Seine Geliebte war ein Mann!
„Schön, dich endlich kennenzulernen, Damian“, sagte Sam lächelnd. Dann hob er eine Hand an Damians Wange, zog ihn ganz sanft zu sich, wartete einen Moment, um Damian die Chance zu geben, sich zurückzuziehen. Als der das aber nicht tat, streiften Sams Lippen ganz sacht die des Vampirs. Sanft, einladend wurde die Geste wiederholt.
Das Gefühl der warmen, weichen Lippen auf seinen, der Nachgeschmack des Apfels, ließ Damians Widerstand und Zweifel in sich zusammenstürzen. Das hier war Sam, seine Samantha, es konnte nicht anders sein – auch sie war so zärtlich gewesen, hatte Äpfel geliebt, sich so wundervoll angefühlt. Endlich, endlich hatte er sie wieder! Damian gab sich in den Kuss, öffnete sich Sams Zärtlichkeiten, der einladend seine Lippen öffnete, sodass Damian ihren Kuss vertiefen konnte. Es fühlte sich alles so richtig an, während sie dastanden und sich küssten, und ohne nachzudenken schob Damian seine Hand auf Sams Rücken, strich zärtlich über dessen Wirbelsäule, was dem Hexer ein leises Kichern entlockte. Damian lächelte – da war sie schon immer kitzlig gewesen.
Es gab wirklich keinen Zweifel – er hatte ihn endlich gefunden. Den Menschen, den er schon so lange liebte.