„Es ist in den Semesterferien eine dreiwöchige Grabung für Ägypten ausgeschrieben.“ Leona lehnte sich gegen Daniels Schulter und warf einen Stein in das Wasser des kleines Teichs, an dem sie saßen. Mit einem dumpfen Platschen versank er.
„Für Alexandria?“, fragte er und zwirbelte einer ihrer Haarsträhnen zwischen seinen Fingern hin und her.
Sie seufzte. „Als ob bei uns Grabungen für Alexandria ausgeschrieben werden würden. Für Zypern.“
„Zypern?“ Leise lachte Daniel auf. „Zypern gehört nicht zu Ägypten.“
„Natürlich nicht“, protestierte sie, auch wenn er sich nicht so sicher war, ob sie es wirklich nicht gewusst hätte. „Sonst hätten wir nie eine Grabungserlaubnis bekommen. Die Regelungen in Ägypten sind unglaublich strikt. Allerdings gehörte es im Hellenismus zu Ägypten.“ Ihr Blick ging in die Ferne, irgendwohin, wo er ihr schon lange nicht mehr hinfolgen konnte. „Es wäre also eine unglaublich spannende Erfahrung. Zypern hat so vielen verschiedenen Einflüssen unterlegen, es gibt so viele verschiedene kulturelle Zeugnisse aus verschiedensten Epochen. Eine Grabung wäre unvergleichlich.“
„Wer leitet die Grabung?“ Ihn interessierte es nicht, was für Epochen oder Besiedlungen es in Zypern gegeben hatte, aber er liebte es, Leona zuzuhören.
„Lenk“, verkündete sie.
„War das nicht der, der so idiotisch zu dir war? Mit dieser unglaublichen Benotung deiner Hausarbeit?“ Noch gut erinnerte sich Daniel daran wie sie in dieser Zeit auf den Professor geflucht hatte.
„Ja, aber Zypern, Daniel, das ist…Dafür ertrage ich selbst den Lenk.“
„Und was ist mit deinen Hausarbeiten? Musstest du nicht vier davon in den Ferien schreiben, eine davon bei ihm?“
Leona drehte den Kopf fort, wie immer wenn ihre Begeisterung von harten Fakten gebremst wurde.
„Erinnere mich bloß nicht daran“, brummte sie. „Ich habe die Schnauze voll von diesen Anforderungen.“ Ihr Körper spannte sich unter seinen Fingern an.
„Umso besser wenn du sie schnell erledigt hast, damit du danach Zeit hast, um dich auf das zu fokussieren, was dir wirklich wichtig ist. Solltest du dich nicht lieber darauf fokussieren? Eine Ausgrabung ist spannend, aber du hast schon genug zu tun und drei Wochen…“
„Ich studiere, um eben das zu tun, mein Lieber. Ich lebe für diese Ausgrabungen.“
Daniel strich ihr beruhigend über den Rücken, woraufhin Leona von ihm fortrückte. Zornig funkelte sie ihn an.
„Das weiß ich doch. Ich will nur, dass sich deine Träume erfüllen. Die Hausarbeit bei Lenk gehört dazu und du musst seine Anforderungen erfüllen, wenn du das Semester bestehen willst. Du weißt, es ist bereits dein Drittversuch und du hängst schon ein Semester hinterher.“ Liebevoll sah er sie an. Daniel wusste, wie wichtig ihr die Erfüllung ihres größten Wunsches war und wie viel Sorge ihr das Hauptseminar bereitete, durch das sie bereits zweimal durchgefallen war.
Leona sprang auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Wenn ich erst einmal die Bibliothek von Alexandria ausgegraben habe, wird mich niemand mehr nach meiner Note in einer Hausarbeit über die Befestigungen von Resafa fragen“, knurrte seine Freundin.
Daniel biss sich auf die Unterlippe. Wieso musste eigentlich jedes vernünftige Gespräch, das er in letzter Zeit begann, in einem Streit enden?
„Leona“, setzte er an.
„Leona“, fauchte sie, „Leona, Leona, Leona. Wann lässt du mich endlich so sein, wie ich bin? Es ist doch mein Studium.”
Etwas nervös befeuchtete Daniel seine Lippen mit der Zunge. „Aber genau das tue ich doch. Ich wollte doch nur darauf hinaus, dass…“
Frustriert warf sie die Hände in die Luft. „Siehst du? Genau das meine ich. Du sollst mich akzeptieren, mich verstehen und nicht dich und deine Ansicht verteidigen.“
„Lass uns nicht streiten“, bat er, „nicht heute. Es tut mir leid, wirklich.“ Manchmal war Leona ein Buch mit sieben Siegeln für ihn. Er verstand nicht, was sie so aufgebracht hatte. Schließlich hatte Daniel ihr nur helfen wollen.
Etwas besänftigt verzog sie das Gesicht. „In Ordnung“, lenkte Leona ein, „Lass uns das Thema Grabung und Uni vorerst vergessen.“
„Genau.“ Erleichtert stand Daniel von der Wiese auf. „Lass uns einfach den Tag genießen. Immerhin ist heute Valentinstag.“
„Aber.“ Sie drohte ihm mit dem Finger. „keine kitschigen Überraschungen.“
Er hob die Hände. „Versprochen.“ Vorerst schien ihm die Gefahr gebannt zu sein. Dass der eigentliche Konfliktpunkt nicht ausgeräumt war, wusste er, aber darüber konnten sie auch an einem anderen Tag streiten.
„Ich habe eine andere Überraschung für dich“, verkündete Daniel, während sie einige Minuten später Seite an Seite durch die Stadt flanierten. Sie hatten einen Wochenendausflug hierhin unternommen, um einmal Zeit für sich zu haben – fern von all dem Stress, der in ihrer Heimat wartete.
Der Konflikt schwelte immer noch zwischen ihnen – Leona hatte sich geweigert, seine Hand zu ergreifen – aber sie schien bereit zu sein, ihm zuzuhören.
„Ich weiß, dass wir uns am Valentinstag immer ein besonderes Geschenk machen, indem wir den größten Traum des Anderen erfüllen. Aber na ja, deinen größten Traum konnte ich wirklich nicht erfüllen. Eine Reise nach Alexandria ist mit meinem Gehalt momentan einfach nicht drin und ich befürchte, dass sie mir auch keine Grabungserlaubnis geben würden. Ganz davon abgesehen, dass ich keine Ahnung habe, wie man die Bibliothek finden soll und dich sowieso nur behindern würde, habe ich gedacht. Also, ich habe mir gedacht, dass ich dir zumindest eine Vorbereitung darauf ermögliche.“
Leona blickte ihn verständnislos an, sagte aber nichts. Daniel biss sich auf die Lippen. Er hatte sich lange überlegt, was er ihr schenken sollte. Heute war ihr fünfter Jahrestag und dies sollte etwas Besonderes sein. Das, was er eigentlich hatte sagen wollen, schien in tausende von Einzelteilen zu zerfallen. Er hatte sich überlegt, wie er ihr seine Liebe beichten sollte, sich an Gedichten und Balladen versucht, aber jetzt schien all das sinnlos zu sein. Es war Leona, einfach nur Leona und alle Worte verblassten.
„Ich. Ich wollte dir nur sagen, dass d-du mir unglaublich viel bedeutest und dass ich dankbar bin für die Zeit, die wir zusammen haben“, stotterte er.
Sie neigte den Kopf. „Ich bin immer noch sauer auf dich“, verkündete sie, aber er sah das Lächeln auf ihrem Gesicht.
Jetzt fiel es Daniel deutlich leichter, mit ihr umzugehen. „Komm, ich habe eine Überraschung“, meinte er und griff nach ihrer Hand. Sie runzelte die Stirn, ließ es aber zu.
Eilig zog er seine Freundin durch die Straßen, lachte wenn sie in Pfützen sprangen und freute sich über jedes Wort, das sie aussprach.
„Weshalb Alexandria?“, fragte er sie, auch wenn er die Geschichte schon Dutzende Male gehört hatte. Er konnte die Wärme ihrer Hand spüren, die schmalen Finger, die sich zwischen die seinen schoben. Ein leichtes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht.
„Weshalb?“ Entrüstet sah sie zu ihm auf. „Weil es die größte Bibliothek der Antike war und einen unschätzbaren Wert an Wissen angesammelt hat. Unzählige Werke, die uns heute verloren sind, standen dort. Ein Besuch wäre wirklich unglaublich!“
Liebevoll sah er auf seine Freundin hinab. Er liebte es, die Begeisterung in ihren Augen zu sehen und die Leidenschaft zu hören, die aus ihr sprach – selbst wenn ihn die Themen an sich nicht interessierten.
„Dabei gibt es nur ein kleines Problem“, bemerkte er grinsend, „Die Bibliothek von Alexandria ist zerstört.“ Sie führten diesen Dialog oft, dennoch verlor er nie die Freude daran.
„Was? Das hätte ich ja gar nicht gedacht.“ Leona hakte sich bei ihm unter und zog ihn mit sich die Straße entlang. „Ich glaube, davon musst du mir mehr erzählen.“
Geschäfte säumten die Straße links und rechts von ihnen. Nicht wenige Pärchen standen vor der Auslage eines Juweliers, doch Leona zog ihn weiter.
„Ich?“, lachte Daniel, „Du bist die Archäologin. Sag mir, wo steht die Bibliothek von Alexandria und wie wurde sie zerstört?“
Leona hob den Kopf und blickte in den Himmel, von wo sanft Schneeflocken herabschwebten. „Eines Tages werde ich an einer Ausgrabung in Alexandria teilnehmen und die Bibliothek ausgraben“, meinte sie. Daniel glaubte ihr. Wenn Leona sich etwas vorgenommen hatte, dann zog sie es auch durch, ganz egal was die Umstände zu dieser Entscheidung sagten.
„Und dann werden sie eine Straße nach dir benennen.“
„Bloß nicht! Meinen Namen würden sie nur schrecklich aussprechen.“ Sie streckte die freie Hand aus, um die Schneeflocken aufzufangen.
„Dann musst du wohl den meinen annehmen“, schlug er vor.
Loanas Hand löste sich aus der seinen, sie drehte sich zu ihm um und ging rückwärts den Bürgersteig entlang.
„Vielleicht“, entgegnete sie. „Oder ich behalte meinen, um jeden Nicht-Deutschen mit der Aussprache zur Verzweiflung zu bringen.“ Sie streckte die Hände zum Himmel aus und bewegte sie im Tanz der Schneeflocken hin und her. Das Weiß umgab sie, legte sich auf ihre Kleidung. „Aber zuerst muss ich eine Grabung in Alexandria durchführen.“
„Und das wirst du.“ Er schritt hinter seiner Freundin her, beobachtete das Funkeln in ihren Augen und die Freude, wenn sich erneut eine Schneeflocke auf ihre Hand legte.
„Und das wirst du! Ich weiß, dass du es wirst!“
Sie verzog das Gesicht „Hast du eine Ahnung, wie schwierig es ist, an Grabungsgenehmigungen in Ägypten zu kommen?“
„Du hast es geschafft, deine Eltern davon zu überzeugen, dass du ein „brotloses Studium“ aufnimmst, also wirst du auch Behörden davon zu überzeugen, dir eine Genehmigung auszustellen.“
Leona lächelte. Für den Moment, so glaubte er, war der Sturm gebannt.
„Ich glaube, dass du deine Träume erfüllen wirst und werde dir dabei helfen.“
„Und ich dir bei den deinen.“ Es war mehr als eine leere Phrase. Manchmal mochten sie sich streiten, aber in den Grundsätzen waren sie sich einig und dazu gehörte auch die Unterstützung des jeweils anderen. Auch wenn sein Leben, na ja…
Daniel rieb sich die Stirn. Im Vergleich zu seiner Freundin kam er sich manchmal ganz und gar gewöhnlich vor. Für sein Umfeld war er eben der verlässliche Lehramtsstudent, der fleißig und zielstrebig seine Pläne verfolgte. Der Kommentar seiner Mutter, als er ihr seine Freundin vor drei Jahren vorgestellt hatte, war gewesen, dass sie doch gar nicht zu ihm passe. Und trotz alles Kopfschüttelns gingen sie nun nach fünf Jahren an einem Valentinstag durch die Straßen.
„Sieh mal!“ Seine Freundin hob die Hand und deutete auf ein kleines Fachwerkhaus, das sich zwischen einen Second-Hand-Laden und eine Bäckerei drückte. Rot glänzte der Backstein im Licht der Sonnenstrahlen, doch ansonsten war es recht unscheinbar. Ein paar Bücher standen in der Auslage, die Ledereinbände fleckig und vom Alter verfärbt. Bronzene Buchstaben über dem Schaufenster verkündeten, das es sich hierbei um das „Antiquariat Alexandria“ handelte.
„Hah! Wo wir gerade darüber redeten, das kann doch kein Zufall sein.“ Ohne auf eine Reaktion von ihm zu warten, zog Leona die Tür auf. So viel zu seiner Überraschung.
Eine Glocke bimmelte irgendwo zwischen den hohen Bücherregalen, als sie über die Schwelle traten. Schon bald verstummte das Geräusch. Einzig und allein das Ticken der großen Wanduhr, die über der verlassenen Theke ging, war zu hören. Es war eine wunderschöne Uhr mit goldenen geschwungenen Lettern und dunklem glänzenden Holz, wie man sie heute selten sah. Das Meiste, was er sah, war ziemlich schön, fand Daniel. „Das sollte eigentlich eine Überraschung sein“, brummte er.
„Sieh mal“, rief sie, deutete auf die vielen Buchregale und drehte sich einmal um die eigene Achse.
„Das sollte eigentlich eine Überraschung sein“, brummte sie, „Ich bezahle dir ein Werk deiner Wahl.“
„Oh danke.“ Sie jauchzte wie es nur Leona tun konnte, umarmte ihn und sprang zwischen die Reihen von Schätzen, die dieses Antiquariat bot, perfekt für eine Archäologiestudentin mit einer Leidenschaft für alte Wälzer.