Ein stechender Schmerz schoss durch Daniels Knöchel, als sie zu rennen begannen. Keuchend entwich die Luft zwischen seinen Lippen. Um den Schmerz zu ignorieren, biss er sich auf die Innenseite seiner Wange, bis er das Blut schmecken konnte, das seinen Mund füllte und ihn ablenkte. Denn ihm fiel auf, dass der Faden umso durchsichtiger wurde, je mehr er von dem Schmerz vereinnahmt wurde. Mariam war es, die ihn durchhalten ließ. Sie stützte ihn, zerrte ihn weiter und wich mit ihm herunterstürzenden Steinen und Dachziegeln aus, die sich auflösten, kaum dass sie den Boden berührt hatten. Andere Menschen hatte Daniel schon lange nicht mehr gesehen. Alle, ob Mann, Frau oder Kind, waren nur noch Teil von Daniels Erinnerungen. Weiter. Nur weiter.
Es schmerzt, du wirst scheitern. Du wirst nur wieder fallen, flüsterten die Zweifel in ihm. Die Straße fiel hinter ihm auseinander. Die Ziegelsteine brachen auseinander und inmitten des Weges tauchten schwarze Löcher auf, die jedes Licht zu absorbieren schienen. Hoffnungslosigkeit. Das war der einzige Begriff, der Daniel passend erschien.
„Komm!“, schrie Mariam und zerrte ihn mit sich. Er griff nach dem Band aus Licht vor sich, das ihn zu Leona führen würde. Es hielt ihn lebendig und war das Gegenteil zu der Hoffnungslosigkeit um ihn herum. Solange es nicht erlosch, glaubte er.
„Da.“ Daniel musste keinen Finger heben, um Mariam zu zeigen, welchen Ort er meinte. Im vorigen Alexandria wäre es nur eines von vielen gewesen, aber jetzt stand nur noch ein einziges Haus inmitten der Trümmerwüste. Nein. Das war das falsche Wort. Es war einfach ein einziges großes Nichts. Wo zuvor noch eine von Leben pulsierende Stadt gewesen war, befand sich nun eine leere Fläche, die Daniel an das weiß geflieste Wartezimmer seines Zahnarztes erinnerte. Diese Fläche hatte keinen Sinn und keine Bestimmung, stattdessen schien es, als ob etwas geschehen müsste. Abwechslung für die Augen boten nur die schwarzen Löchern, die sich beständig weiter zu vergrößern schienen und das Haus. Es war kein außergewöhnliches Haus. Nicht viel mehr als eine einfache flache Hütte, die so auch im alten Alexandria zu finden sein könnte. Für einen Moment erwartete Daniel, dass auf dem Flachdach die Wäsche im Wind flattern würde, aber natürlich tat sie das nicht. Es rührte sich nichts auf dem Dach oder in dem Haus. Doch der Faden aus Licht zog sie stetig auf dieses Gebäude zu, sodass Daniel und Mariam weitergingen. Dort befanden sich Leona und Christopher, wer auch immer das sein mochte, davon war Daniel überzeugt.
„Pass auf. Christopher ist gefährlich“, warnte Mariam ihn, „Ich weiß nicht, wie er dir schaden kann. Du bist kein richtiger σωτῆρές, aber auch kein Teil dieses Traums, sodass es kompliziert sein könnte. Vielleicht ist es aber auch ein Vorteil.“
Stumm nickte er. Seine Hände zitterten, in seinem Kopf drehte sich alles, aber Daniel wagte es nicht, den Faden loszulassen. Er war alles, was ihn mit Leona verband und führte direkt zu der Tür ihres Herzens, das für ihn weit geöffnet war.
„Lass uns weitergehen“, flüsterte er und stützte sich auf sie.
Mariam nickte. „Du schaffst das“, ermutigte sie ihn. Was für ein seltsamer Gegensatz. Zuvor war er es gewesen, die sie ermutigt hatte und jetzt versuchte sie ihn aufzumuntern.
„Leona wird sich freuen, dich kennen zu lernen“, erklärte er. Es war leichter an ihr Lächeln zu denken, als an das, was ihn erwarten konnte.
Doch es gelang ihm nicht auf Dauer, diese Gedanken auszublenden. Mit jedem Schritt, den sie gingen, kamen sie dem Haus näher und der Ungewissheit, dass es für Daniel verkörperte. Mittlerweile waren sie so nahe, dass er die eisernen Beschläge der Tür erkennen konnte. Sie war geschlossen, dahinter war kein Geräusch zu vernehmen.
Mariam legte die Hand gegen das dunkle Holz. „Bereit?“, flüsterte sie und sah ihn besorgt an. Stumm und angespannt nickte Daniel.
Sie stieß die Tür auf.
Und Daniel brach zusammen.
Es glich einem Pfeilhagel, der auf ihn einprasselte. Nur dass dieser nicht aus Holz und metallenden Spitzen sondern Gedanken bestand. Gedanken, Worte, Zweifel, Selbstvorwürfe überspülten ihn, als wäre mit dem Öffnen der Tür ein Wall gebrochen.
WER BIST DU SCHON, brüllte die Stimme, EIN VERSAGER, DER SEINE FREUNDIN NICHT WERT IST. DU KANNST SIE NICHT BESCHÜTZEN. SIE WEIß ES. VERSAGER. VERSAGER. Versager, Versager.
„Nein“, stöhnte Daniel und wälzte sich auf dem Boden hin und her. „Es ist eine Lüge“, flüsterte er schwach.
LÜGEN? DU BEKLAGST DICH ÜBER LÜGEN? WAS DENKT LEONA? SIE WEIß, DASS DU SIE NIE GELIEBT HAST.
„Das ist nicht wahr.“ Sein Widerstand kam nur schwach. Die Stimmen prasselten auf ihn ein, erstickten jegliche Stärke, die er zuvor gehabt hatte. Entsetzt bemerkte er, dass der Faden des Lichts verschwunden war und sich genauso in Luft aufgelöst hatte, wie der Rest von Leonas Traum. Ich habe den Schlüssel verloren, dachte er.
DEN SCHLÜSSEL? DACHTEST DU WIRKLICH, DASS DU DEN SCHLÜSSEL IHRES HERZENS HAST? SIE LIEBT DICH NICHT, HAT SIE NIE, höhnte die Stimme.
Auf dem Boden liegend versuchte Daniel einen klaren Gedanken zu fassen. War es wahr, was sie die Stimme sagte? Er musste an den Streit zurückdenken, den sie vor ihrem Besuch im Antiquariat gehabt hatten. Sie hatte doch seine Hand abgelehnt, oder. Und kurz nach seiner Liebeserklärung hatte sie ‚Ich bin immer noch sauer auf dich’ gesagt, als wäre all dies so unbedeutend gewesen. Es schien ihm Ewigkeiten her zu sein, dass er sie zuletzt gesehen hatte. Es waren alles Lügen, flüsterte die Stimme.
Aber weshalb bin ich hier?, fragte ein kleiner Rest von Zweifel in ihm.
DU BIST HIER, WEIL ICH ES WOLLTE.
Doch der kleine Rest von Zweifel ließ sich nicht ersticken und spülte Wort- und Bildfetzen an die Oberfläche seiner Unsicherheit. Es ist ungewöhnlich, dass auch du hier bist. Wenn es nach den Regeln ginge, dürftest du gar nicht hier sein. Du liebst sie wirklich sehr. Du bist kein richtiger soteres, aber auch kein Teil dieses Traums.
Wenn ich weder Teil des Traums noch ein Soteres bin, wer bin ich dann?
Mit den Händen tastete er nach dem Beutel an seiner Hüfte und griff nach dem kleinen Schlüssel, den er dort aufbewahrt hatte. Er mochte nur ein Symbol sein, doch in diesem Moment war es alles, was Daniel hatte. Um ihn herum schien eine undurchdringbare Dunkelheit zu sein, in der dieser Schlüssel ihn gleich einem Licht an das erinnerte, was gewesen war, während ein Pfeilhagel an Worten immer weiter auf ihn einprasselte. Und inmitten der Dunkelheit wurde Daniel ruhig. Er nahm die Abwehr zurück und gab sich den Gedanken einfach hin. In unbarmherziger Geschwindigkeit zogen Bilder seiner Vergangenheit vor seinem inneren Auge vorbei und Stimmen wurden durch seine Ohren weitergegeben. Aber dadurch dass er passiv wurde, erkannte er etwas, was Leona ihm immer vorgehalten hatte. Sie hasste die Passivität, in der er manchmal handelte.
Ja, ich bin ein Teil dieses Traumes, erkannte er, Sonst wäre ich nicht hier. Aber ich bin kein Statist sondern ein Akteur. Ich komme in diesem Traum nicht als Statist vor, weil sie diesen Traum mit mir teilen wollte. Wir sollten ihn gemeinsam erfüllen.
Eine Welle der Liebe für seine Freundin erhob sich tief in Daniels Inneren. Die Stimme schrie in seinem Kopf auf, stemmte sich gegen die Bilder, die sich nun über Gedanken an Hass, Streit und Furcht legten, aber sie wurde einfach davongetragen. Nun sah Daniel die Versöhnungen anstatt der hässlichen Konflikte, die Zweisamkeit anstatt der Einsamkeit, gemeinsame Ziele anstatt eines Auseinanderdriftens der Träume. Einheit. Sie waren eins. Eins weil sie sich liebten.
Und nun konnte Daniel endlich aufstehen.