*[Stichwort: Schlinge]
Blauer Dunst erfüllte das Badezimmer, sodass es vollkommen ausreichte die verdorbene Luft einzuatmen, dennoch zündete Nicholas sich eine weitere Zigarette an. Er wusste wie ungesund das war, aber was sollte er tun? Es beruhigte ihn nun einmal und das brauchte er gerade am Meisten. Kopfschüttelnd nahm er das Dokument erneut in die Hände und aschte in den bereits überfüllten Aschenbecher auf dem Wannenrand ab. Es war durch das ständige Auf- und Zusammenfalten bereits dünn wie Pergament. Dennoch nahm er es immer wieder hervor, als könne er so dessen Inhalt ändern. Wütend starrte er auf die wenigen Zeilen hinab, zerknüllte es und warf es neben sich in den Mülleimer.
Nicholas würde sich nicht von so einem Stück Papier herunterziehen lassen. Nein - sobald die Luft rein war, würde er Vicini anrufen und die ganze Sache regeln!
Vielleicht war das Ganze nur ein Missverständnis und selbst wenn nicht, erst wegen ihm war MK-TV das was es heute war. Ganz sicher ließ er das nicht mit sich machen! Entschlossen drückte er auch diese Zigarette aus und griff nach der Schachtel.
“Verdammt”, fluchte Nicholas, als er feststellte, dass sie leer war. Ist eh ungesund, dachte er sich und fühlte innerlich neuen Groll darüber wachsen, dass er sich so hatte gehen lassen. Seit einigen Monaten versuchte er nun schon diesem Laster abzuschwören und er hatte der Versuchung immer wieder trotzen können, bis zu diesem Moment. “Wir werden ja sehen. Das letzte Wort ist hier noch nicht gefallen”, murmelte er, als er den Mülleimer öffnete, das zerknüllte Papier herausholte und dafür die leere Schachtel hineinpfefferte. Säuberlich strich er es wieder glatt, faltete es zusammen und verstaute es in seiner Hosentasche.
Seufzend öffnete er das Fenster, putzte sich die Zähne und schlüpfte aus seiner Kleidung. Zwar würde auch das Duschen nichts nutzen und Janice würde riechen, dass er geraucht hatte, aber immerhin bekämpfte es dennoch einen Großteil des Geruchs, der ihr schlicht den Magen umdrehte. Sicherlich würde sie toben, wenn sie es merkte.
Ein Lächeln schlich sich auf Nicholas’ Gesicht. Er war gut zwei Köpfe größer als Janice und hatte mit ihr zusammen die wohl gruseligsten Orte auf diesem Erdball besucht, aber wenn sie erst einmal richtig sauer war, bekam er es mit der Angst zu tun. Es gab wohl nichts furchteinflößenderes als eine Frau, die beschützen wollte, was sie liebte.
Genießend schloss er die Augen, als das warme Wasser über seinen Körper lief und war dankbar für diesen Moment der Ruhe. Wenn er das Bad verließ musste er sich einerseits mit Janice, die ihm vorwarf zu achtlos mit sich zu sein, und mit Vicini, der ihn in großen Schlamassel hineingeritten hatte, auseinandersetzen. Aber seine Freundin würde sich wieder beruhigen und er würde in Zukunft stärker gegen den Drang ankämpfen. Das waren also keine wirklichen Probleme.
Blieb nur noch das Problem mit dem Programmchef von MK-TV. Wenn Vicini das wirklich durchziehen wollte, würde er das finanziell wohl überleben. Dennoch würden sie sich in Zukunft einschränken müssen, bis er in einem neuen Projekt Fuß gefasst hatte. Aber er wollte es schlicht nicht!
“Vergessen & Verloren” war sein Werk. Sein Baby, wenn man so wollte. Noch vor acht Jahren wusste er kaum, wie er Geld für die Miete aufbringen sollte und sein Leben war hart gewesen. Aufgeben kam aber nie in Frage und es war sein Hobby, das ihm mehr bedeutete als jeder billige Aushilfsjob, der gerade so die nötige Kohle brachte, das ihn überleben ließ. Seine verstorbenen Eltern würden ihn wohl einen faulen Taugenichts nennen, der keinen vernünftigen Job gelernt hatte und nur nutzlose Videos drehte.
Aber er war niemand, der acht Stunden in einem Bürojob versauern konnte und wenn es nachts wurde, zog er dann mit seinem besten Freund James um die Häuser. Nicht etwa um sich besinnungslos zu trinken, wie es sein Großvater stets vermutete, sondern um an etwas großem zu Arbeiten.
Schon als er als Teenager den Nachbarort Madison Springs das erste mal betreten hatte und die verfallenen Ruinen des Wentworth Anwesens gesehen hatte, wusste er, was er tun wollte. Die Faszination, die ihn an solchen verlassenen Orten zuverlässig ergriff, konnte kein Zufall sein. Er fühlte, dass es seine Aufgabe war, diesen verfallenen und aus dem Gedächtnis der Menschen verschwundenen Orten ein neues Gesicht zu geben.
Und so waren es schließlich seine Videos, die nicht nur ihn sondern auch Vincent Vicini aus der Scheiße befreit. “Vergessen und Verloren” hatte MK-TV erst zu einem Namen verholfen. Den Sender aus den roten Zahlen gezogen und ihn vor der Schließung bewahrt, bevor es eigentlich so richtig losgehen sollte. Vermutlich war es ebenso Schicksal gewesen, dass Nicholas an diesem einem vermeintlich verfluchtem Tag von der Polizei aufgegriffen wurde, als er sein neues Ziel ausspähte. Eine alte zerfallene Brauerei hatte sein Interesse geweckt und diesmal wurde er erwischt.
Er nahm es einfach hin, als man ihn in den Polizeiwagen bugsierte und aufs Revier fuhr. Was konnten sie ihm schon anhaben? Er besaß nichts. Er war nichts. Nicholas war ein freier Mann, der einfach tat was er wollte, weil er sonst genauso gut tot sein konnte.
Da saß er also und wartete auf seine Vernehmung, als ihm der Kerl neben sich auffiel.
“Na, Kleiner. Was hast du angestellt?”, fragte er ihn mit einem breiten Grinsen und wischte sich Blut mit dem Ärmel von der Nase. Eigentlich konnte Nicholas gar nicht sagen, warum er überhaupt mit ihm gesprochen hatte. Hatte er doch keinen Bock auf ein Gespräch. Aber der Typ, war der erste hier, der ihn nicht mit diesem typischen “gescheiterte Existenz”-Blick betrachtete.
“Bin eingebrochen”, sagte Nicholas knapp und drehte den Kopf direkt weg.
“So so”, hörte er neben sich. “Kleiner Nebenverdienst, was?”
Bevor Nicholas es verhindern konnte schüttelte er den Kopf und gab dem fremden Mann die nicht geschuldete Antwort.
“Nein. Stand leer. Ich drehe nur Videos.”
Der Stuhl neben ihm knarrte und als Nicholas das nächste Mal aufblickte saß der Typ ihm fast auf dem Schoß. In seinen Augen blitzte es aufgeregt.
“Videos?”, fragte er. “Erzähl mir davon. Ich hab nen TV-Sender, weißt du.”
Zweifelnd blickte Nicholas den Fremden an. Der Typ sah vollkommen abgerissen aus. Seine Nase blutete und die Unterlippe war aufgeplatz. Nie und nimmer konnte dieser schräge Vogel der Besitzer eines TV-Senders sein oder gar für einen arbeiten. Zumindest nicht in einer Position von Bedeutung.
Nicholas’ Blick war eindeutig, aber der Mann ließ sich nicht abwimmeln und hielt ihm seine Hand hin.
“Vincent Vicini”, stellte er sich vor. “Lass dich davon nicht abschrecken”, sagte er und deutete auf sein zerschundenes Gesicht. “Hab meinen alten Boss vermöbelt. War ne Pfeife. Es macht sowieso mehr Sinn, sein eigenes Ding zu machen und in ein paar Jahren werden wir berühmt sein. Also kommst du nächste Woche in mein Büro und zeigst mir deine Videos?”
Die Verzweiflung muss es gewesen sein, die Nicholas tatsächlich dazubrachte diesen Verrückten ein zweites Mal zu sehen. Aber es sollte die beste Entscheidung seines Lebens sein. Und nun hatte Vicini ihn verraten und sein Kopf steckte in der Schlinge!