»Du solltest deine Vergangenheit nicht wegen mir aufgeben«, ermahnt sie ihn eines Tages, als sie gemeinsam unter den Bäumen sitzen und sich lustige Geschichten erzählen.
»Aber...«, will er widersprechen, unterbricht sich aber selbst. Er hat alles für sie aufgeben. Alles hinter sich gelassen und ein neues Leben angefangen.
Er hat in der letzten so viel gelacht, wie noch nie. So viele schöne Stunden. Und doch, ist da etwas. Ein Schatten in all dem Licht.
»Ich denke manchmal an sie«, offenbart er ihr schließlich. »Ich denke daran, wie es ihr geht. Ich habe sie einfach so da gelassen. Ohne weitere Worte, einfach dieser Brief. Ich frage mich, ob das ihr gegenüber fair war. Wie es ihr gerade geht. Ich meine, ich bin glücklich. Aber was mit ihr?«
Sie rückt näher zu ihm und umarmt sie, während sie noch immer unter dem Baum sitzen. Leise rascheln die Blätter über ihnen, als sie zu sprechen beginnt: »Du musstest gehen. Es hat dich damals nicht glücklich gemacht. Doch es lässt dich nicht los, oder?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein. Dort wo das Licht ist, sind die dunkelsten Schatten. Immer wieder diese Gedanken, diese Vorwürfe. Ich war glücklich mit ihr...oder glaubte es zumindest zu sein. Es war perfekt, bis du erschienen bist.«
»Das klingt, als sei ich schuld daran, aber ja«, unterbricht sie ihn.
»Nein, so ist es nicht.« Er drückt sie etwas näher an sich. »Eher im Gegenteil. Du hast mir gezeigt, was wirklich wichtig ist. Aber sie war so eine wunderbare Freundin. So eine besondere Person. Ich hatte mir selbst geschworen, sie niemals zu verletzten oder zu enttäuschen. Und jetzt das. Ich vermisse sie, obwohl ich mit dir glücklich bin. Ich will sie nicht zurück und doch kann ich sie nicht so wortlos gehen lassen. Ich will mich weiterhin mit ihr unterhalten können. Für sie da sein können.«
»Warum redest du dann nicht einfach mit ihr?«, fragt sie ihn leise und er schweigt einige Augenblicke.
»Ich weiß nicht. Ich war plötzlich weg, habe nur diesen Brief dagelassen. Wie soll ich ihr jetzt gegenübertreten? Es wäre merkwürdig, einfach so wieder aufzutauchen. Ich habe Angst, wie sie reagiert«, gesteht er ihr.
Sie nickt kaum merklich, doch durch die Umarmung spürt er es. »Aber was hast du zu verlieren? Es macht dir zu schaffen. Du willst mit ihr reden. Dann musst du es tun. Du machst dir Vorwürfe. Für dich ist all das noch nicht geklärt. Für dich ist dieser Schatten noch immer da. Dann solltest du mit ihr reden, versuchen den Schatten zu vertreiben. Sonst wird es niemals verschwinden.«
»Hm. Du hast recht, aber...«, versucht er zu widersprechen, aber sie unterbricht ihn. »Keine Widerrede. Du gehst zu ihr und redest mit ihr. Du schaffst das! Ich weiß das! Es wird euch beiden guttun. Und nun geh! Ich warte hier auf dich.«
Sie löst sich aus der Umarmung und sieht ihn erwartungsvoll an. »Willst du nicht mitkommen?«
Sie schüttelt ihren Kopf. »Wäre das nicht etwas merkwürdig?«
»Hm«, brummt er, steht aber schließlich auf.
»Du schaffst das!«, ermutigt sie ihn ein weiteres Mal und nimmt ihn noch einmal kurz in den Arm.
Ein letztes Mal sieht er zu ihr zurück, als er sich auf den Weg aus dem Wald und in seine alte Heimat hinein macht.
Langsam setzt er einen Schritt vor den nächsten und spürt dabei, wie sein Herz immer schneller rast, als würde es in einem Marathon zu seinem Ziel laufen.
Nervös klopft er an die Tür seines ehemaligen Hauses, das er so fluchtartig verlassen hat. Schließlich öffnet sich die Tür und sie sieht ihn wortlos an. Doch es reicht, um sein Herz in der Brust wild hin und her hüpfen zu lassen, als wäre es ein Flummi.
»Was willst du?«, flüstert sie leise.
»Ich...ich will mit dir reden«, antwortet er.
Schweigend macht sie einen Schritt zur Seite. »Es ist noch immer auch dein Haus.«
Er folgt ihr ins Wohnzimmer und sie setzten sich auf die Couch, wie sie es früher allzu oft getan haben.
»Ich...ich, ich wollte sehen, wie es dir geht«, meint er, nachdem das Schweigen unangenehm geworden ist.
»Wie soll es mir sehen?« Sie starrt auf die Wand. »Als du damals einfach so wortlos verschwunden bist. Nur dieser Brief. Sonst nichts. Nicht einmal ein Wort zum Abschied. Ich war verliebt. Ich wollte meine Zukunft mit dir verbringen. Kinder mit dir haben. Ich wollte einfach nur mit dir glücklich werden. Ich wollte so vieles. Es war einfach perfekt. Eines Morgens dieser Brief und die Stille. Ich meine...ich wusste von ihr. Natürlich. Aber ich wollte es verdrängen. Doch dann die Gewissheit...sie hat in meinem Herzen tausende Scherben hinterlassen.«
Plötzlich holt sie aus dem Nicht einen Zettel hervor und beginnt mit zittriger Stimme vorzulesen.
Hallo meine Liebe,
Diese Worte zu schreiben tut weh. Lange habe ich darüber nachgedacht. Ich finde nicht die richtigen Worte, um zu sagen, was ich wirklich fühle.
Ich bin zufrieden mit dir. Ich fühle mich wohl bei dir. Doch in der letzten Zeit habe ich festgestellt, dass ich mehr brauche, um wirklich glücklich zu sein. Dass ich dem Ruf der Freiheit folgen muss. Ich kann nicht bei dir blieben, so weh es auch tut.
Du bist eine viel zu perfekte Person. Das funktioniert so nicht, auch wenn ich selbst es glauben will. Du hast besseres verdient als mich. Du solltest mit jemand anders glücklich werden und nicht mit mir. Diese Worte zu schreiben, tut weh. Es verletzt mich und doch muss ich sie schreiben. Es ist mein Weg, denn ich gehen muss. Es ist die richtige Entscheidung, egal wie weg es tut. Das musst du verstehen. Ich will nicht gehen.
Doch ich muss mein Glück woanders suchen.
Versprich mir, dass du auch ohne mich glücklich wirst. Leb dein Leben. Trauere nicht mir hinterher, ich bin es nicht wert.
Ich liebe dich. Doch es macht mich nicht glücklich. Je mehr ich dich liebe, desto weniger liebe ich mich. Deshalb muss ich gehen.
Leb wohl meine Liebste
Er spürt, wie die Tränen fließen. Doch nicht nur bei ihm, sondern auch bei ihr. Lange Zeit überlegt er, ob er sie umarmen soll und entscheidet sich schließlich doch dafür. Wortlos liegen sie sich in den Armen, bis er irgendwann wieder anfängt zu sprechen.
»Ich wollte dich nicht verletzen. Niemals! Ich wollte das alles nicht. Doch ich konnte es nicht mehr. Ich habe sie gesehen. Und...es ist mir über den Kopf gewachsen. Ich wusste, dass es mir auf den Kopf fallen wird. Doch in dem Augenblick fühlte es sich so richtig an. So einfach zu gehen. Du bist natürlich noch immer eine wunderbare Person. Doch damals habe ich festgestellt, dass wir zu unterschiedlich sind, als dass ich bei dir glücklich sein könnte. Ich brauche einfach etwas anderes. Es liegt nicht an dir, denn es ist mein Weg. Doch glaub mir eines: Ich wollte dich niemals verletzen.«
Mit leiser Stimme antwortet sie ihm: »Es war alles so sehr am Strahlen. Doch dann kam die Dunkelheit, der Schatten. Aber auch die Dunkelheit hat ihre Pflicht. Ich kann von dir nicht erwarten, dass du bei mir bleibst, wenn du davon nicht glücklich bist. Aber das lässt die Wunden nicht weniger Schmerzen. Das lässt sie Scherben nicht wieder ganz werden. Das lässt die Schatten nicht verschwinden. Das heilt nicht die Narben auf meinem Herzen. Aber weißt du was: All diese Sachen gehören zum Leben dazu. Sie zeigen einem, wer man wirklich ist. In der Dunkelheit erkennt man seinen wahren Charakter. Man beginnt die Dinge anders zu sehen, über all das nachzudenken. Diese Dinge mehr zu schätzen, weil sie nicht selbstverständlich sind.«
»Kann ich irgendwas für dich tun?«, fragt er sie. »Wenn es irgendwas gibt, sag Bescheid. Du kannst immer zu mir kommen. Egal worum es geht.«
Sie schüttelt ihren Kopf. »Nein. Ich muss da selbst durch. Doch du kannst glücklich werden.«
»Aber...«, will er widersprechen, aber sie unterbricht ihn. »Nein, du musst nichts sagen. Du solltest schweigen. Ich will nicht sauer auf dich werden müssen! Ich will das nicht! Es wäre nicht fair, wenn ich patzig werden, nur weil ich enttäuscht bin. Schließlich ist es dein Weg und ich muss damit klarkommen. Werde du glücklich! Das ist das wichtigste.«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Das gleiche wie immer. Das Leben geht weiter und bleibt nicht stehen. Wir sollten es genießen. Deshalb solltest du jetzt auch wieder zu ihr gehen. Leb wohl. Danke für diese tolle gemeinsame Zeit«, verabschiedete sie sich.
Unwillig erhobt er sich von der Couch. »Ich sollte dir danken«, erklärt er. Nach einer letzten Umarmung verlässt ohne ein weiteres Wort das Haus und macht sich auf dem Weg zurück in seine neue Heimat. Und tatsächlich ist ein Stück Schatten in seinem Inneren einem entspannten Strahlen gewichen. Selbst bei ihr sind die düstersten Schatten im Innerem einem sanften Licht gewichen.