Teil I) Countdown
Genauso wie Kinder die Tage bis Weihnachten zählen, zähle ich die Tage bis zum Frühlingserwachen.
Ich feiere die ersten Krokusse, die aus der Erde spitzen und kann mich stundenlang damit beschäftigen, Blumenzwiebeln und Samen im Boden zu versenken. Ein Fest, wenn diese dann sprießen, gedeihen, wachsen und blühen.
Genauso wie auf das Erwachen meines eigenen Gartens freue ich mich in diesem Frühjahr auf den Beginn der Landesgartenschau, die dieses Mal ganz in meiner Nähe stattfinden wird.
Noch zwölf Tage bis zur offiziellen Eröffnung.
Auf dem Weg zur Arbeit fahre ich täglich an dem Gelände vorbei. Die Baukräne sind längst abgebaut. Jetzt steht ein zwei Meter hoher Zaun davor, blickdicht mit Werbebannern abgedeckt. Keiner weiß, was sie sich für diese Ausstellung ausgedacht haben, aber jeder erzählt etwas Anderes. Auf den Social-Media-Kanälen und in der Zeitung laufen die Werbeaktionen auf Hochtouren. Mein Dauerticket ist längst bestellt und lächelt mich von der Pinnwand herab an.
Auch der Gärtner meines Vertrauens ist in die Vorbereitungen involviert, aber auch ihm ist keine Silbe darüber zu entlocken, was die Besucher erwarten wird. In seine Augen tritt ein Glanz, wenn ich frage, aber egal ob beiläufig, direkt oder geschickt – aus ihm ist nichts herauszubekommen.
Ich platze fast vor Neugier. „Aber ich muss doch wissen, wie viel Platz ich in meinen Beeten lassen muss.“ Keine Antwort, nur ein wissendes Grinsen.
„Also viel Platz?“ Das Grinsen wird breiter. Er nickt. „Fang besser schon mal an, zu sparen.“
„Gibt es spezielle Züchtungen? Raritäten?“
„Was das Herz begehrt.“
„Und was für Gärten? Was für Beete? Was ist diese Besonderheit, von der alle reden?“
„Warte es ab. Du wirst Augen machen.“ Mehr sagt er nicht.
Aber es dauert noch fast zwei Wochen und jeder Tag zieht sich endlos in die Länge. Um mich abzulenken, stürze ich mich in die Arbeit. Mache Überstunden, verlasse als Letzte das Büro. Schließlich will das Geld für meine grünbunten Lieblinge verdient sein.
Auf dem Weg nach Hause läuft im Radio ein Interview mit dem verantwortlichen Gartenplaner. Es wirft mehr Fragen auf, als dass es welche beantwortet. Etwas ganz Großes erwartet die Besucher. Es wird magisch werden. Weiß ich doch schon alles. Ich drücke auf den Knopf und schalte die Sendung ab. Auf den Sichtschutzzäunen reihen sich die Anzeigen der Landschaftsgärtnereien und Gartencenter, Geldgeber und Sponsoren. Ich kenne sie inzwischen auswendig.
Die Arbeiter sind schon gegangen. Ich bin heute ziemlich spät dran. Sonst stehen immer noch Lastwagen am Straßenrand und warten auf die Rückkehr der Arbeiter in den Feierabend.
Ohne groß nachzudenken setze ich den Blinker und fahre rechts ran. Will doch mal sehen, ob ich nicht irgendwo durch eine Lücke einen Blick erhaschen kann.
Aber leider stehen die Zäune zu eng beieinander. Nirgendwo ist auch nur die kleinste Ritze. Frustriert presse ich den Atem zwischen meinen Zähnen hervor. So schnell gebe ich nicht auf. Außerdem tut mir die frische Luft nach einem langen Tag in geschlossenen Räumen gut und auch die Bewegung schadet nicht. Ich laufe ein wenig am Zaun entlang. Nach ein paar hundert Metern wird aus den losen Bauzaunelementen mit den Sichtschutzbannern ein Holzzaun, noch undurchdringbarer als der vorherige Abschnitt.
Die müssen sich wirklich etwas Besonderes ausgedacht haben, wenn sie das Gelände dermaßen schützen.
Ich habe mich längst damit abgefunden, die noch verbleibenden elf Tage und eine Nacht abwarten zu müssen, bis ich das Geheimnis lüften kann. Immerhin ist es an diesem Abend noch nicht kalt und ich setze meinen Spaziergang noch ein wenig über den Feldweg entlang des Holzzauns fort. Was wohl auf der anderen Seite ist? Ich male mir die buntesten Gärten, Teichanlagen, Rabatten und Parkanlagen aus. Spielplätze mit Klettertürmen und Wasserläufen für die Kinder. Rosenpavillons, Skulpturenausstellungen und preisgekrönte Blumenarrangements. Ich kann den süßlichen Duft fast schon riechen und meine Vorfreude steigt ins Unermessliche.
Weiter hinten endet das Gelände in einem kleinen Wäldchen. Bis dorthin will ich noch laufen. Der Wald hat mich schon immer interessiert. Ich sehe ihn sonst nur im Vorbeifahren aus der Ferne.
Kurz bevor der Feldweg die ersten Bäume erreicht, Birken und Eichen, öffnen sich die Holzpalisaden zu einem Tor. Ich muss an einem Seiteneingang angelangt sein. Kleine blaue Blumen wachsen im Eingangsbereich. Die habe ich noch nie gesehen. Neugierig beuge ich mich näher zum Boden. Mir steigt ein würziger Geruch in die Nase. Vorsichtig knipse ich einen Blütenstängel ab. Ein Schauer läuft mir über die Haut. Der Stiel fühlt sich seltsam kalt an. Ich stecke die Blüte ein, um sie zuhause näher zu bestimmen.
Ich habe mich schon umgedreht und will zurück zum Auto laufen, da kommt mir eine Idee. Ziemlich abwegig, aber einen Versuch wert. Meine Hand, noch immer mit einer Gänsehaut überzogen, streckt sich der Klinke entgegen.
Zu meiner Überraschung gibt die Tür unter meinen Fingern nach. Das Paradies liegt vor mir, ich muss es nur betreten.