Teil II) Paradies auf Erden
Das kann nicht wahr sein. Vermutlich bin ich eingeschlafen und träume. Ich zwicke mich selbst in den Oberarm und fühle den Schmerz. Egal, jetzt wo ich schon einmal hier bin – soll ich hinein?
Bevor ich noch groß über die Frage nachdenken kann, habe ich den Schritt schon getan. Ich will nur einen kurzen Blick riskieren. Vielleicht finde ich einen Gärtner, dann kann ich nach den blauen Blumen fragen und so tun, als hätte ich mich verlaufen oder als gehöre ich zu einer Gärtnerei und hätte noch etwas zu erledigen gehabt.
In meinem Kopf rattert es und mein Herz schlägt viel zu schnell. Aber niemand ist zu sehen. Nur ein voll in Blüte stehendes Beet der blaublättrigen, blaublühenden Blumen zu meiner Linken. Der würzige herbe Geruch schlägt mir noch stärker in die Nase und von dem Feld geht ein kalter Hauch aus. Natürlich muss ich mir das aus der Nähe anschauen. Ich streiche vorsichtig über die spitzen Blätter und mein Verdacht bestätigt sich. Von dieser Pflanze strahlt eine Kälte aus. Das muss eine spezielle, ziemlich exotische Züchtung sein. Kein Wunder, dass die Veranstalter die unter Verschluss halten wollten.
Mich fröstelt und ich wende mich ab. Auf der rechten Seite steht ein Feld mit gelben Blumen in voller Blüte. Die Blütenköpfe sehen aus wie große Sonnen. Vielleicht eine seltene Sonnenblumenart oder eine Echinacea. Bei jedem Schritt in diese Richtung wird mir wärmer. Als ich direkt vor den Blumen stehe, verspüre ich ein angenehmes Glühen. Es ist, als würde die Sonne direkt auf meine Haut scheinen, dabei ist sie gerade hinter den Bäumen des Wäldchens versunken. Aber es wird noch eine Weile hell sein, und ich bin ganz alleine hier. Die Gelegenheit werde ich nutzen und mich umschauen. Bevor ich gehe, mache ich ein schnelles Bild des gelben Blütenmeers mit meinem Handy.
Vor mir liegt ein Rosengarten, durch den ein gepflegter Kiesweg führt. Ordentlich geschnittene Rabatten aus Buchs rahmen ihn ein. Alle paar Meter steht eine Bank und lädt zum Verweilen ein. Ich habe gar keine Zeit, den Anblick zu genießen, ich muss weiter, so viel sehen, wie ich kann. Zwischen den roten Rosenbüschen wachsen Gräser und Lavendelpflanzen. Jeder Seitengang zweigt durch einen Bogen ab, auf dem sich blutrote Rosenranken emporschlängeln. Die Blüten wirken wie lebendig, als würde echtes Blut durch sie hindurchfließen. Etwas an der Kulisse erinnert mich an Alice im Wunderland. Ich lache und strecke die Arme aus. Ich bin Alice und das hier ist mein persönliches Wunderland. Wie ein kleines Kind drehe ich mich im Kreis. Wenn mich jetzt jemand sehen könnte, er würde glauben, ich hätte nicht alle Sinne beisammen.
Aber niemand ist weit und breit zu entdecken. Auch kein hüpfendes weißes Kaninchen. Außer ein paar späten Schmetterlingen und summenden Insekten bin ich alleine.
Der Rosengarten mündet auf einen geschotterten Weg, der in Richtung des Wäldchens führt, das sich auf dieser Seite des Geländes fortsetzt. Ich muss noch herausfinden, was sich auf der anderen Seite befindet und dann kehre ich um. Es ist ohnehin unmöglich, dass ich mir alles anschaue, bevor es dunkel wird. Das Gelände ist riesig. Ich beeile mich.
Die Erde am Wegrand wird feuchter, je näher ich zu den Birken und Eichen komme. Jemand muss eine Wildblumenmischung ausgesät haben. Überall wuchern Blumen. Der Untergrund wird sumpfiger. Hier kommt wenig Sonnenlicht durch. Die gelben Blüten des Sumpfdotterkrauts konkurrieren mit den krautigen Blättern einer Sumpfpflanze. Das satte Grün und das Eidottergelb lassen mein Herz höher schlagen. Ein weiteres Foto folgt.
Auch im Wäldchen sind noch Schmetterlinge und Bienen unterwegs. Kein Wunder, überall zwischen den Bäumen wachsen Blumen und Sträucher. Es summt und schwirrt, zirpt und zwitschert. Ich schließe die Augen und lausche andächtig. Es riecht herrlich moosig und süßlich mild.
Aber leider habe ich keine Zeit, die Natur zu genießen. Ich muss unbedingt erfahren, was auf der anderen Seite liegt. Ich bin nicht wie Rotkäppchen und lasse mich von einem bösen Wolf und den bunten Blumen vom Weg abbringen. Ein Erinnerungsfoto muss reichen. Obwohl es schade ist, wenn ich das nächste Mal hier bin, werde ich nicht alleine sein. Das ist eigentlich meine Chance, mir ein duftendes Andenken in Form eines Sträußleins mit nach Hause zu nehmen. Würde mir die Wartezeit verkürzen, bis ich hier tagelang herumwandeln und alles genau inspizieren kann.
Ich lenke meine Schritte vom Weg und bücke mich nach der ersten Blüte. Dann ein weiterer Schritt, die nächste Blüte folgt. So geht es eine Weile weiter. Aus dem Sträußchen ist längst ein imposanter Wildblumenstrauß geworden. Jetzt darf mich wirklich niemand erwischen.
Mit größter Willenskraft zwinge ich mich, die nächsten Blumen stehenzulassen. Die Insekten haben mehr davon, als ich. Aber ich habe vorsichtig immer nur eine Blüte von jedem Bestand genommen, um keine der Pflanzen zu schaden.
Die Bäume lichten sich. Meine Neugierde wächst. Ich stehe vor der Rückseite eines Gebäudes. Weiße Betonwände münden auf einen mit großen Kieselsteinen belegten Boden. Schläuche und Kabel, um deren Verlegung sich noch keiner gekümmert hat, verlaufen darüber. Hier hinten sollte sie niemand zu Gesicht bekommen. Ich muss auf der falschen Seite herausgekommen sein. Irgendwo im Hinterwald. Nicht für Besucher gedacht.
Während ich das Gebäude umrunde - es muss ein Versorgungshaus sein, in dem die Gärtner Pause machen und ihre Gerätschaften lagern können – steigt mein Puls ins Unermessliche. Auf der anderen Seite muss mich etwas Unglaubliches erwarten. Ich spüre es einfach.
Ohne nachzudenken, eile ich um die Hausecke und stehe mitten auf einem gepflasterten Platz. Weiter vorne befinden sich Stehtische, Buffettische und Fackeln, die noch nicht entzündet wurden, stecken in den Rabatten, Lampions hängen von den Bäumen. Doch das ist nicht das Schlimmste.
Da wo ich stehe, sind Scheinwerfer angebracht und die Kabel münden in große schwarze Boxen. Vor mir steht ein Mikrofonständer. Ich stehe auf der Bühne, mitten im Rampenlicht und zig Gesichter haben sich mir zugedreht.