NEHMT ES IHR nicht übel. Unsere Nerven liegen blank, seit Discordias Banden vermehrt durchs Land streifen und uns terrorisieren«, entschuldigte sich Ace erneut für das aufbrausende Verhalten seiner Gefährtin. »Bitte, stellt mir eure Fragen. Ich sehe doch, dass euch einiges unter den Krallen brennt.«
»Ich schätze, auch unsererseits ist eine Entschuldigung angebracht«, begann Sophie das Durcheinander von zuvor zu erklären. »Dein Rudel hat uns einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Es hat ausgesehen, als plantet ihr, uns anzugreifen.«
»Ich hoffe, dass ihr es uns nicht nachtragt, aber meine Kinder wollten euch tatsächlich fressen. Sie sind momentan in einem schwierigen Alter, kurz vor der Jugendmauser, und egal, was man ihnen sagt, sie beharren stets auf das letzte Wort.« Ace schmunzelte stumm in sich hinein, gab den Mädchen allerdings einen geeigneten Ansatzpunkt, um ihre Fragen zu stellen.
»Die anderen drei waren also eure Kinder?«, interessierte sich Celine als Erstes für die Konstellation dieser Dinosaurier-Gruppe.
»Ja, die beiden, die euch eingekesselt haben sind unsere Töchter und der übereifrige Kerl, der euch am liebsten zum Abendbrot gegessen hätte, ist unser Sohn«, erklärte Ace die Familienverhältnisse.
»Er sah ganz genauso aus, wie seine Schwestern. Du hingegen bist so farbenprächtig und unterscheidest dich deutlich von Diana«, stelle Sophie fest.
»Ich hoffe, es gefällt euch«, sagte Ace und drehte sich mit aufgestellten Federn an Kopf, Armen und Schwanz vor den beiden Mädels im Kreis, wie ein Pfau. Sein Gefieder glänzte dabei in der Sonne in schillernden Farben.
»Wie ihr mitbekommen habt, brüten Diana und ich derzeit. Das heißt, haben gebrütet«, erklärte Ace weiter. »Wir Hähne bekommen in der Brutsaison unser Prachtgefieder und sehen damit für die Hennen besonders verführerisch aus. In der Theorie ist das so. Diana ist mit nichts zufrieden, was ich mache. Ständig findet sie, etwas zu meckern. Wie auch immer«, der Raptor schüttelte den Kopf, zuckte kurz mit den Schultern und legte sein Gefieder wieder an. »Die drei Jungtiere sind jene, die vor zwölf Monden geschlüpft sind und somit aus der vorletzten Brut stammen. Wir Deinonychus nisten, wenn es optimal läuft, alle sechs Monde. Die Jüngsten verstecken sich, sobald keine älteren Tiere in ihrer Nähe sind und jagen Kleintiere und Insekten. Obendrein hocken sie zum Schutz vor anderen Raubsauriern oft in Bäumen.«
»In Bäumen? Wirklich?«, unterbrach Sophie den Saurier und ihre Augen weiteten sich.
»Sicher. Mithilfe ihrer in diesem Alter noch stark gekrümmten Sichelkrallen sind die Jungtiere in der Lage, wendig zu klettern. Leider bin ich dafür längst zu groß und ungeschickt. Schade eigentlich, war toll da oben.« Ace warf einen sehnsüchtigen Blick in die Baumwipfel, bevor er seinen Weg fortsetzte.
»Vor der Nestlingsmauser sind unser Küken in ein flaumiges Federkleid gehüllt«, setzte er erneut an zu erzählen. »Rund drei Monde nach dem Schlupf, wechseln sie es und ihr Jugendgefieder beginnt zu wachsen. Jenes ist stumpfer und unauffälliger als das, welches wir Erwachsenen tragen und tarnt sie im Unterholz vor anderen Räubern. Zwischen den jungen Hähnen und den Hennen gibt es äußerlich keinen Unterschied. Die zweite komplette Mauser startet mit etwa zehn bis zwölf Monden. Zu diesem Zeitpunkt erhalten sie ihr endgültiges, voll entwickeltes Aussehen. Dabei sind die Weibchen schlichter gefärbt als die Männchen. Dann beginnt die Phase, in der die Jungtiere langsam flügge werden und sich eigene Reviere und Partner suchen. Manchmal bleiben weibliche Geschwister längere Zeit zusammen, einige sogar lebenslang.«
Mit offenen Mündern lauschten Celine und Sophie, was Ace ihnen erklärte. Er und seine Familie waren also Deinonychus. Eine Dinosauriergattung, die bis zu 3,40 Meter lang werden konnte und zu den Raptoren oder Dromaeosauriern gehörte. Der wissenschaftliche Namenszusatz antirrhopus bedeutet Gegengewicht und die Schwestern erkannten deutlich, wie das elegante Tier seinen Körper mithilfe des langen Schwanzes ausbalancierte.
Besonders fasziniert waren die beiden vom Gefieder des Dinos. Es bekleidete nahezu seine gesamte Körperoberfläche. Lediglich Stellen im Gesicht, der Schnauze, den Händen und Arminnenseiten, sowie der Bauch, die Füße, Beininnenseiten und die Unterseite des Schwanzes waren mit einer reptilientypischen Haut bedeckt. Dadurch wirkte er wie ein übergroßer Greifvogel.
Die Farbe des Gefieders variierte in verschiedenerlei Brauntönen mit schwarzen, weißen, gelblichen und rötlichen Musterungen und Wellenzeichnungen, die man ebenso von heutigen Vögeln her kannte. Im Gegensatz zu seinen Jungen, denen die gelben und roten Nuancen fehlten. Sie waren eher schlicht in bräunlich bis gräulich gekleidet und ihre Federn glänzten nicht so stark. Ace unterschied sich von Diana, außer in der Größe, auch durch mehrere bunte Zierfedern, die seinen Hinterkopf, die flügelähnlichen Arme und den Schwanz schmückten. Sie waren länger als jene seiner Partnerin und schimmerten perlmutt- und metallartig in verschiedenen Farben, von Blau über Violett bis zu Grün und Orange. Einzig ein Pfau oder Papagei könnte dagegen in Konkurrenz treten. Schade, dass er dieses sogenannte Pracht- beziehungsweise Balzgefieder bald wieder verlieren würde.
»Wie pflegt ihr eurer Gefieder, dass es so schön glänzt?«, wollte Celine wissen, die es nicht schaffte, ihren Blick von dieser Schönheit abzuwenden.
»Wir haben am Schwanzansatz eine Drüse mit einem pflegenden Sekret. Mit der Oberseite unserer Schnauze nehmen wir es auf und verteilen es auf dem Federkleid. Das macht es nicht nur glänzend, sondern auch wasserabweisend und schützend gegen Hitze und Kälte.«
»Dinosaurier haben Bürzeldrüsen? Das glaubt uns keiner!«, rief Sophie aus und klatschte in die Hände.
»Was dachtet ihr denn, wie wir das machen?«, fragte Ace verwundert zurück.
»Nun, eigentlich gehen die meisten Menschen davon aus, dass ihr keine Federn habt. Zumindest nicht so viele. Sie denken, ihr seht aus wie große Eidechsen.« Celine kam sich ein wenig dumm und ungebildet vor. Immerhin hatte sie selbst nicht alles glauben wollen, was ihre Oma ihr über Dinos erzählt hatte und auch in ihrer Vorstellung sahen Dinosaurier eher wie heutige Reptilien aus.
»Eidechsen! Ich muss doch bitten. Dieses unintelligente Volk. Die taugen bloß als Snack für zwischendurch«, echauffierte sich Ace angesichts des unglücklichen Vergleichs.
»Apropos Snack. Jagt ihr immer im Rudel oder wie darf ich mir das vorstellen?«, sprach Sophie das nächste Klischee an, welches die Menschen den Raptoren zusprachen.
»Rudel? Ich nenne es Familie. Wenn wir größere Beutetiere zur Strecke bringen, tun wir das gemeinsam. Einige lenken das Tier ab und ein oder zwei andere greifen aus der Deckung heraus an. Das habt ihr ja vorhin miterleben dürfen.« Ace zwinkerte den Mädchen frech zu.
»Danke, dass du uns noch einmal daran erinnerst«, grummelte Sophie zur Antwort.
»Nichts für ungut. Die meiste Zeit jagen wir einzeln oder zu zweit kleinere Tiere oder fressen das, was größere Saurier übrig lassen«, fuhr Ace fort. »Wir bilden keine Rudel aus mehreren nicht-verwandten Raptoren. Wir sind ein Familienverbund. Die Jungtiere bleiben bei uns, bis sie alt genug sind, selbst für sich zu sorgen und helfen bei der Aufzucht und Beaufsichtigung der nachkommenden Brut. Das ist sehr effizient. Es gibt natürlich auch Junggesellengruppen und, wie gesagt, einige Schwestern bleiben zusammen. Jedoch denke ich nicht, dass das außergewöhnlich ist. Die Tyrannen machen das auch so.«
Erneut erfüllte kurzes Schweigen den Dschungel. »Tyrannosaurus lebt und jagt im Familienverbund?«, fragte Sophie und schaute Celine verblüfft an.
»Das tun viele Raubsaurier. Je nachdem, wie umfangreich das Nahrungsangebot ist. In weniger ertragreichen Gegenden gibt es vermehrt Einzelgänger und in Gruppen kommt es oft vor, dass ältere und schwächere Tiere von ihren Artgenossen gefressen werden. Jeder ist sich am Ende des Tages selbst am nächsten.«
Bei diesem Tatsachenbericht entwich den Schwestern jegliche Farbe aus dem Gesicht.
»Schaut nicht so entgeistert«, versuchte Ace die Mädchen rasch zu beruhigen. »Kannibalen finden sich einzig unter den Erstgeschlüpften. Ich sags ja immer wieder. Primitiv sind die. Schade, dass unsere Jungtiere bislang ausnahmslos Erstgeschlüpfte waren.«
»Soll das heißen, das ist nicht vererbbar?«, wunderte sich Celine über Aces Aussage.
»Es ist keine Fähigkeit, die weitergegeben wird. Das Schicksal oder an was auch immer man glauben möchte, entscheidet darüber, ob wir zu den Erstgeschlüpften gehören oder nicht.«
»Und woran merkt ihr das, wenn nicht gerade zwei Menschenkinder hier herumlaufen?«, fragte Sophie.
»Das haben uns Lilly und die anderen bereits erklärt«, kam Celine Ace zuvor. »Sie sind in der Lage, nicht ausschließlich mit Artgenossen, sondern mit sämtlichen Dinosauriern zu sprechen, die ebenfalls Wieder-Geborene sind.«
»Das ist richtig und, wie ich finde, ein entscheidender Vorteil«, gab Ace ihr recht. »Ich habe mich oft mit Hermes über alle möglichen Dinge unterhalten, welche Diana als Mumpitz abtut. Ja, ich kenne die Geschichten rund um eure Großmutter und ebenso die Entwicklungen um Discordia und ihre Bande«, gab er schließlich zu. »Es wäre mir eine Ehre, euch dabei zu helfen, euren Weg in unserer Welt zu finden. Ihr könnt euch sicher sein, einen Freund in mir gefunden zu haben.«
»Das freut uns zu hören, Ace. Vielleicht könntest du uns auch gleich bei einer Sache helfen«, wagte Celine sich, eine erste Bitte an ihren neugewonnen Freund zu richten.
»Nur zu, ich werde tun, was ich kann.« Ace legte sein Gefieder an und wartete aufmerksam auf Celines Frage.
»Die Sache ist die – Poseidon hat uns zwei Compsognathus anvertraut. Sie fungieren als Ausgleich dafür, dass wir hierher kommen, und sollten mit uns zusammen in unsere Welt reisen und da waren sie auch.« Celine schaute zu Boden, kaute auf ihrer Oberlippe herum und scharrte mit der Schuhspitze auf dem Erdboden herum. »Bis, nun ja, bis wir sie verloren haben.«
»Zwei Compsognathus, sagst du? Doch nicht etwa diese beiden nervigen Brüder? Oh, wenn ich mit denen reden könnte, ich würde ihnen vielleicht was erzählen, das sage ich euch!« Ace schien nicht gut auf Hinz und Kunz zu sprechen zu sein. Wütend stellte er seine Federn wieder auf und kratzte mit der Sichelkralle ebenfalls auf dem Boden herum. »Keine Angst, die wird man nicht so schnell los. Die habt ihr ruck, zuck wieder an der Backe.«