»KRONOS?«, STIESS SCOTTY überrascht aus und Poseidon nickte schwerfällig.
»Richtig. Kronos war der Erste von uns, der in der anderen Welt war und einem Menschen begegnet ist«, setzte der Liopleurodon seine Erklärungen fort. »Er war es, der Mary Anning traf, eine zu ihrer Zeit bedeutende Forscherin auf dem Gebiet ausgestorbener Tierarten. Heute weiß man kaum noch etwas über sie, was sehr bedauerlich ist.«
»Ich habe von ihr gelesen«, mischte sich Sophie ein, die sich nachdenklich am Kinn kratzte. »Sie hat vor allem Meeres- und Flugechsen gefunden. Das steht in einem meiner Bücher.«
»Ich bin erfreut, das zu hören. Offenbar erhält sie endlich die Ehre, die ihr gebührt.« Poseidon nickte zufrieden mit dem Kopf, um dann erneut für ein paar Minuten abzutauchen.
»Celine! Hat Oma nicht mal gesagt, dass ihre Familie von einem britischen Polsterer abstammt?«, fragte Sophie ihre jüngere Schwester und schaute sie vielsagend an.
»Du willst doch nicht etwa andeuten, dass wir ausgerechnet mit Mary Anning verwandt sind?«, fragte Celine und legte ihren Kopf schief.
»Aber wenn der Stein, also unser Opal immer von einer zur nächsten Generation weitergegeben wurde, dann wäre das die Schlussfolgerung«, war sich Sophie sicher.
»Deine Schwester hat recht, Celine«, sagte Poseidon, der wieder aus dem Wasser aufgetaucht war. »Mary gab den Opal kurz vor ihrem frühen Tod mit 47 Jahren an ihren Bruder Joseph weiter, der als Polsterer arbeitete. Was immer das bedeutet. Jedenfalls war es Willi, die eines Tages in Marys Fußstapfen trat und als erster Mensch nach ihrer Ur-Großtante wieder in unserer Welt auftauchte.«
»Wow, Celine! Wir sind mit Mary Anning verwandt! Was sagt man dazu?«, freute sich Sophie und grinste Scotty und Lilly euphorisch an, die ihre Freude mangels Kenntnis über diese Mary Anning nicht so recht teilen konnten.
»Aber was ist das hier denn für eine Welt?«, fragte Celine, der es offenbar auch nicht so wichtig war, was knapp 200 Jahre zurücklag.
»Ihr nennt es, glaube ich, Parallelwelt«, sagte Poseidon, als wäre es das Normalste überhaupt. »Diese Welt hier existiert parallel zu eurer. Der Opal hat durch den einschlagenden Blitz eine Macht erhalten, diese beiden Welten miteinander zu verbinden. Er ist das Medium, das euch hier herbringen und euch mit uns reden lassen kann.«
»Ich kann mir das trotzdem noch nicht so recht vorstellen!«, sprach Celine weiter. »Ich meine, ihr redet genau wie wir. Ihr benutzt Begriffe aus unserer Welt und wisst, wie eure Art heißt. Das ist nicht denkbar bei einem, nun ja, Tier.«
»Das alles übersetzt der Opal passend für euch«, sagte Poseidon und schien zu schmunzeln, wenn man das bei einem Liopleurodon so nennen konnte.
»Er bekommt also eine Art Update aus unserer Welt, damit unsere Kommunikation reibungslos und ohne Missverständnisse funktioniert?«, fragte Sophie und betrachtete den Opal in ihrer Hand, der bei jedem Wort, das sie oder einer der Saurier sprach, blass schimmerte.
»Ja, so wird es sein, wenn du es so verstehst«, bestätigte Poseidon Sophies Vermutung, ohne, dass er wusste, was ein Update in dem Sinne war. Doch Celine war sich sicher, dass der Opal es ihm in seiner Sprache so übersetzt hatte, dass er selbst mit diesem neuzeitlichen Begriff etwas anfangen konnte.
»Lilly hat mir noch etwas sehr Seltsames erzählt«, stellte Celine eine ihrer dringlichsten Fragen. »Sie meinte, dass wir nicht mit jedem von euch sprechen können. Nur mit den, ähm, Wieder-Geborenen, wie sie es nannte.«
»Das ist richtig. Diese Fähigkeit haben nur jene Saurier, die früher einmal in eurer Welt gelebt haben«, sagte Poseidon und atmete schwer ein.
»Weil sie dadurch noch eine, hm, natürliche Verbindung mit unserer Welt haben?«, fragte Celine und wieder nickte Poseidon.
»Doch eines verstehe ich nicht«, stellte auch Sophie eine interessante Frage. »In welcher der drei Epochen sind wir hier? Sie, die Diplodocus und auch die beiden Compsognathus sind aus dem Jura-Zeitalter. Scotty, der Tyrannosaurus aus der späten Kreide, Hermes, der Ornithocheirus aus der unteren bis oberen Kreide und Celine hat Ornithomimiden gesehen, die es wiederum in der Oberkreide gab und -«
Poseidon unterbrach Sophie, indem er erneut mit einem lauten Platschen abtauchte. Als er wieder an die Wasseroberfläche kam, erwarteten ihn neugierige Gesichter.
»Ich bin froh, dass ihr das bemerkt habt und euch fragt, wie all diese Arten aus verschiedenen Epochen in dieser Welt zeitgleich auftauchen können. Ihr scheint über sehr viel Wissen zu verfügen. Eure Großmutter hat ganze Arbeit geleistet«, sagte Poseidon und nickte amüsiert mit dem Kopf. »Ich kann mir vorstellen, dass viele Menschen sich die damalige Welt so vorstellen, dass Stegosaurier, Langhälse, Dreihörner, Tyrannosaurier und all die ihnen bekannten Arten zur selben Zeit existierten. In Wirklichkeit war dem nicht so, wie ihr richtig erklärt habt. Hier in dieser Welt ist dies allerdings tatsächlich der Fall. Hier fließen alle drei Epochen zusammen.«
Die Schwestern sahen sich verblüfft an. »Also, ähm, verstehe ich das richtig? Wir sind hier weder in der Kreidezeit, noch im Jura?«, fragte Sophie.
»Diese Welt umfasst die gesamte Existenzzeit der Dinosaurier, Pliosaurier, Plesiosaurier, Pterosaurier und aller Tiere, die während der Trias, des Jura und der Kreidezeit lebten. Ihr befindet euch in der Welt des vereinten Mesozoikums.«
»Das ist wirklich abgefahren! Wir sind in Mesozoic World oder so was!«, rief Sophie und klammerte sich an Celines Schultern fest. »Das bedeutet, wir können jeden Dinosaurier sehen, den es jemals gab, sogar den Spinosaurus, der nächsten Sommer im dritten Teil von Jurassic Park vorkommen soll?«
»Darüber würde ich mich an deiner Stelle nicht allzu sehr freuen«, sprach Poseidon ermahnend weiter. »Bislang ist mir kein Wieder-Geborener dieser Art bekannt. Ich denke, Lilly, Scotty und Hermes haben bereits erwähnt, dass Erst-Geborene gefährlich für euch sind.«
»Ja, das haben sie«, sprach Celine. »Aber heißt das, wir sind hier in Gefahr? Ich meine, wenn wir hier verletzt oder getötet werden, sind wir dann auch in unserer Welt ...«
Celine war nicht fähig, diese Worte zu Ende zu sprechen und sie bemerkte, wie auch ihre Schwester schwer schluckte, als dieses Thema aufkam. Gespannt warteten beide die Antwort des Liopleurodon ab.
»Ich würde euch raten, den Opal so schnell es geht zu benutzen, wenn ihr in eine gefährliche Situation geraten solltet. Das könnte unter Umständen eure einzige Rettung sein.«
»Schön und gut, die Frage ist weiterhin – wie! Wie benutzen wir diesen Opal, um zwischen den Welten zu wandeln?«, wollte Celine endlich die Antwort auf eine ihrer dringendsten Fragen haben.
»Reibt dreimal mit dem Daumen darüber, dann werdet ihr von der einen in die andere Welt gezogen«, beschrieb Poseidon den Vorgang knapp, als wäre das für ihn am wenigsten wichtig.
Celine und Sophie nickten stumm. Die Sonne stand noch immer hoch am Himmel und Scotty hatte sich mittlerweile auf seine Hinterbeine gesetzt, wodurch er noch mehr wie ein großer Vogel aussah.
»Und wenn wir hier sind, was ist dann in unserer Welt? Sind wir dort während dieser Zeit verschwunden?«, fragte Sophie.
»Die Tageszeiten sind in beiden Welten vertauscht«, sagte Poseidon, nachdem er tief eingeatmet hatte. »Es wäre zu empfehlen, dass ihr bei Nacht hierherkommt, wenn eure Eltern denken, ihr schlaft.«
»Und wenn sie mal nachts hereinkommen, weil’s brennt oder so?«, wollte Celine wissen.
»Dann holt euch der Opal automatisch zurück«, antwortete Poseidon.
»Gut zu wissen. Also gehen wir am besten immer dann hierher, wenn wir uns sicher sind, dass so schnell niemand etwas von uns will«, dachte Sophie laut nach. »Aber was ist, wenn wir uns die Nächte hier um die Ohren schlagen? Dann sind wir am nächsten Morgen total müde und können uns nicht auf die Schule konzentrieren.«
»Als ob dir das was ausmachen würde«, sagte Celine und grinste ihre ältere Schwester frech von der Seite an. »Du sitzt doch sowieso manchmal bis in die halbe Nacht vor deinem GameBoy oder liest Mangas.«
»Gar nicht wahr. Ich recherchiere für die Schule!«, rechtfertigte sich Sophie und nickte dabei heftig mit dem Kopf, um sich selbst zu bestätigen.
»Na, sicher. Aber sie hat recht. Wir werden tagsüber total müde sein, wenn wir nachts hier sind und quasi zwei Tage haben, doch keine Nacht«, sagte Celine.
»Ihr werdet euch fühlen, als wenn ihr die ganze Nacht tief und fest geschlafen hättet«, sagte Poseidon zuversichtlich. »Vor allem die ersten Besuche werden euch wie Träume vorkommen.«
»Wahnsinn. Dann leben wir ja quasi doppelt so viel, wie andere Leute, weil die ja nachts richtig schlafen, während wir Abenteuer erleben!«, freute sich Sophie sichtlich über ihr neues Leben als Nacht-Abenteurerin. Celine schien dem Ganzen noch etwas skeptisch gegenüber zu stehen.
»Warum sind es immer so junge Leute?«, fragte sie nachdenklich. »Mary Anning war elf, ich bin auch elf, Oma Willi wird nicht viel älter gewesen sein und Sophie ist auch erst vierzehn? Warum müssen Kinder eure Welt retten und wovor?«
Poseidon tauchte ein weiteres Mal ab, bevor er antwortete.
»Mary war bis zu ihrem Tod bei uns. Kronos hatte später verfügt, dass ein Mensch nur bis zu dem Tag hier herkommen konnte, an dem er selbst Junge, ähm, Kinder bekam oder seine Mission abgeschlossen war. Denn eine Mutterschaft oder auch Vaterschaft ist eine große persönliche Aufgabe. Es wäre unvorstellbar, dass jemand beide Herausforderungen mit gleicher Hingabe meistern könnte. Sollte die Mission zu diesem Zeitpunkt nicht abgeschlossen sein, müssen wir selbst einen Weg finden, mit der Bedrohung fertig zu werden, oder warten, bis eine neue Generation zu uns kommt.« Poseidon atmete tief ein und schaute Celine und Sophie nachdenklich an. »Eines der Kinder von Wilhelmine hätte damals kommen müssen, aber offenbar hat sie keinem davon vertraut.«
»Oder sie hatten kein Interesse, wie unsere Mutter«, murmelte Sophie.
»Aber wieso sollten ausgerechnet Menschenkinder euch bei irgendwelchen Problemen helfen können? Was haben Mary und unsere Oma getan? Was müssen wir tun?«, drängte Celine darauf, auch die wichtigste aller Fragen zu beantworten.
»Sie müssen das Gleichgewicht beider Welten aufrechterhalten, welches durch den Blitzeinschlag damals durcheinandergeraten ist«, sagte Poseidon und klang nun sehr ernst und nachdenklich. »Es hätte niemals passieren dürfen, dass Kronos, der zu jener Zeit noch ein kleines Kälbchen war, in eure Welt gelangte und eigentlich hätte auch kein Mensch je in unsere Welt gelangen dürfen. Ihr, die Träger des Opals, oder der Opale in eurem Fall, seid die Mittler zwischen den beiden Welten und tragt somit dazu bei, dass das Portal für alle anderen geschlossen bleibt. Jedoch …«
Poseidon holte abermals tief Luft, woraufhin die Anspannung aller Anwesenden aufs Maximum stieg.
»… Jedoch kam dieses Gleichgewicht immer dann ins Wanken, wenn es zu lange keinen Auserwählten gab«, fuhr der Liopleurodon fort. »Es gab immer wieder Vorfälle, die nicht hätten sein dürfen.«
»Nessie!«, rief Sophie aufgeregt. »All die Nessie-Sichtungen in Schottland. Das waren Plesiosaurier aus dieser Welt, habe ich recht?«
Poseidon gab ein tiefes, kehliges Lachen von sich. »Davon habe ich gehört. Ich kann diesen konkreten Fall jedoch weder bestätigen noch ausschließen«, sagte er zu Sophies Enttäuschung. »Sichtungen dieser Art gab es, so viel ich weiß, bereits lange vor dem Vorfall mit Mary und dem Opal. Vielleicht gab es schon öfter eine Verschiebung unserer beider Welten, doch das vermag ich nicht zu beantworten. Nur eines weiß ich, es waren Dinosaurier in eurer Welt und haben dort für Aufsehen gesorgt. Ihr wisst jedoch besser als ich, dass man euersgleichen in so einem Fall kaum Glauben schenken wird, sodass jene Vorfälle bislang ohne Folgen blieben. Aber das könnte sich ändern, wenn das Leck zwischen dieser und eurer Welt größer und instabiler wird.«
Poseidon tauchte erneut ab und hinterließ wieder einmal ratlose Blicke.
»Also sind wir jetzt hier, um das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten«, schlussfolgerte Celine mehr für sich.
»Aber wie genau machen wir das?«, fragte Sophie. »Rein durch unsere Anwesenheit?«
»So habe ich es verstanden«, mutmaßte Celine. »Doch er und Lilly sprachen noch von einer anderen Bedrohung. Etwas, das auf der anderen Seite des Flusses liegen soll.«
»Und das wird schwieriger sein, als diese beiden Welten im Gleichgewicht zu halten«, sagte Lilly und senkte den Blick.
»Aber was ist es?«, fragte Sophie.
In diesem Moment tauchte Poseidon wieder auf und atmete kräftig aus, wodurch erneut eine Fontäne aus seinen Nasenlöchern sprudelte.
»Ihr müsst uns vor Discordia und ihrer Bande schützen.«