Montag, 30. Oktober 2000
CELINE WURDE UNSANFT von einem unangenehm lauten und ziemlich mechanisch klingenden Hahnenschrei geweckt. Sie stöhnte und grummelte in ihre warme, weiche Bettdecke und streckte in Zeitlupengeschwindigkeit ihren rechten Arm hervor, um dem Geplärr ein Ende zu bereiten. Nachdem sie dem hühnerförmigen Wecker eins auf den Kamm gegeben hatte, erklang ein aufgesetzt freundliches »Guten Morgen!«. Es war 6:00 Uhr und Montag – eine Kombination aus der Hölle.
Fast schon hätte sie sich in Selbstmitleid gesudelt und den bevorstehenden Schultag mit Grauen entgegengesehen. Doch dann fiel ihr ein, dass sie noch Ferien hatte und erst am Donnerstag wieder zur Schule musste. Sophie musste ihr am Vorabend einen Streich gespielt und den Wecker aktiviert haben.
»Das wird sie mir büßen«, schwor sich Celine, als sie sich noch mal umdrehte.
Celine liebte es, wenn sie ausschlafen konnte, aber morgens schon wach war und auf den Straßen vor ihrem Haus Leute eilig zur Arbeit laufen oder fahren hörte. Vor allem, wenn es auch noch regnete. Dieses kleine, aber feine Gefühl der Schadenfreude konnte sie sich dann einfach nicht verkneifen.
Am Donnerstag würde sie allerdings auch wieder in aller Frühe auf dem Weg zur Schule sein. Zum Glück lag diese nicht so weit entfernt von ihrem Elternhaus, wie ihre Grundschule damals, die sie nur mit dem Schulbus erreichen konnte. Und sie war wieder mit ihrer Schwester auf einer Schule, die sie auf so manche Unannehmlichkeit vorbereiten konnte, die da in den nächsten Schuljahren noch auf sie zukommen würde.
Gerade als Celine fast wieder eingeschlummert war, hörte sie ihre Mutter draußen im Flur reden. Sie klang nicht gerade friedlich gestimmt. Hatte Sophie wieder ihre Socken irgendwo liegen lassen? Oder hatte der Nachbar ihren Wagen erneut zugeparkt?
»Ich wollte mich schon bei den Nachbarn beschweren ...«, hörte Celine ihre Mutter vor sich hin schimpfen. »... aber das war unsere Waschmaschine, die mitten in der Nacht losgerumpelt ist. Und was finde ich dann darin? Sophies Plüsch-Pockemonn. Auf was für Ideen kommt dieses Kind denn noch?«
Celine musste innerlich schmunzeln. Sie wusste, dass ihre ältere Schwester, die ein Faible für alle möglichen japanischen Zeichentrickserien hatte, es auf Teufel komm raus nicht ausstehen konnte, wenn jemand Pokémon falsch betonte. Und ihre Eltern standen bei diesem Thema ganz oben auf ihrer Liste der unmöglichen Aussprachen.
Aber was um alles in der Welt hatte Sophie geritten, mitten in der Nacht ihr Pikachu zu waschen? Celine war genauso verwundert darüber, wie ihre Mutter. Hatte sich Sophie heimlich Eiscreme mit ins Bett genommen und das arme gelbe Elektromäuschen damit bekleckert? Oder wurde das Plüschtier gar von einem Tyrannosaurus vollgesabbert?
»Wie komme ich denn auf diesen Schwachsinn?«, dachte sich Celine, gähnte noch einmal herzhaft und schlief wieder ein.
Es war kurz nach 8 Uhr, als die Elfjährige erneut die Augen aufschlug. Es war bereits hell draußen und ihre Eltern waren längst auf Arbeit. Sophie würde vermutlich noch schlafen, dachte sie und krabbelte langsam aus ihrem Bett. Sie blieb noch eine Weile an der Bettkante sitzen und streckte sich kräftig, gähnte heftig und erinnerte sich schmächtig, dass sie in dieser Nacht einen sehr seltsamen Traum gehabt hatte.
»Oh, man. Ich sollte weniger an Oma und ihre Dino-Geschichten denken«, murmelte sie vor sich hin. »Jetzt träume ich schon, dass ich mit Dinosauriern reden kann. So ein Unfug.«
Sie schnappte sich ein paar frische Klamotten und trottete ins Badezimmer, das, wie erwartet, noch leer war. Als Celine den Wasserhahn aufdrehte und das heraussprudelnde Wasser sah, traf sie eine Erinnerung dieses Traumes wie ein Blitz.
»Das sieht fast so aus, wie die Fontänen, die dieser sprechende Liopleurodon ausgestoßen hat«, dachte sie und schüttelte den Kopf. »Ich hab einfach zu viel Fantasie. Sprechender Liopleurodon. Unsinn!«, sagte sie zu sich selbst und begann sich frisch zu machen.
Frisch gewaschen und angezogen tapste Celine schließlich in die Küche, um sich Frühstück zu machen und sie erwartete, dass außer ihr niemand dort sein würde. Doch sie sollte sich irren.
»Morgen, Celine«, sagte eine hellwache Sophie, die jedoch irgendwie etwas entrückt dreinschaute.
»Du bist schon wach? Womit habe ich das denn verdient?«, fragte Celine ihre Schwester, die für gewöhnlich nicht vor 9 Uhr aus den Federn kam, und das wäre dann auch schon zeitig für ihre Verhältnisse.
»Ich konnte nicht mehr schlafen. Mama kam kurz nach 6 zu mir ins Zimmer, um mir mein Pikachu zu bringen«, sagte Sophie und betrachtete das gelbe Plüschtier seltsam ungläubig.
»Ja, dank deiner Aktion mit meinem Wecker war ich zu der Zeit wach und habe gehört, wie Mama sich über den Krach beschwert hat, den du nachts veranstaltet hast«, rumpelte Celine ihre Schwester an und nahm sich eine Schale aus dem Küchenschrank.
»Ich hätte es sonst nicht ausgehalten«, murmelte Sophie vor sich hin und ihr Blick heftete weiterhin auf dem Pokémon.
»Was hättest du nicht ausgehalten? Hast du es im Schlaf angemalt oder drauf gesabbert?«, fragte Celine und schüttete ihre Lieblingscornflakes in die Schale, auf der kleine kunterbunte Dinosaurier abgebildet waren.
Für einen Moment hatte Celine erneut das seltsame Bild vor Augen, wie ein Tyrannosaurus das Pikachu ihrer Schwester in sein Maul trug. Ihr Herz fing an, fürchterlich schnell zu schlagen, und sie konnte es sich nicht erklären.
»Ich hab es gleich in die Waschmaschine gesteckt, nachdem wir zurück waren«, erzählte Sophie weiter und starrte nun auf die Comic-Dinos auf Celines Müslischale. »Eigentlich eine Schande, dass man sie so lächerlich darstellt, was?«, fragte sie ihre Schwester.
»Waf meimft du?«, fragte Celine, die bereits einen Löffel voll bunter Kringel zwischen den Backen hatte. »Wir waren gefterm misch weg.«
»Doch. Doch das waren wir«, antwortete Sophie und ging ohne ein weiteres Wort in ihr Zimmer zurück.
Celine hatte ein seltsames Gefühl, doch sie wusste noch nicht, woher dieses kam. Immer wieder zuckten vor ihrem Inneren Bilder auf, die sie sich nicht erklären konnte. Für einen kurzen Augenblick erinnerte sie sogar die Pfanne, die in der Spüle stand an einen Langhals-Dinosaurier. Über das seltsame Verhalten ihrer Schwester machte sie sich jedoch weniger Sorgen. Das werde wohl wieder die Pubertät sein, die ihre Eltern immer vorschoben, wenn sich Sophie mal wieder komisch benahm.
Als Celine mit dem Essen fertig war und ihre Müslischale abräumte, fiel auch ihr Blick erneut auf die darauf abgebildeten Dinosaurier. Ein Triceratops, ein Diplodocus oder Apatosaurus oder so was, ein Stegosaurus, ein Tyrannosaurus und oben drüber flog ein Pteranodon.
»So ein Blödsinn«, dachte Celine. »Die haben doch alle gar nicht zur selben Zeit gelebt. Dass die die kleinen Kinder immer so verarschen müssen.«
Just in diesem Moment traf Celines Erinnerung wieder eine Art Geistesblitz und sie hörte eine tiefe und schwere Stimme in ihrem Kopf widerhallen.
»Diese Welt umfasst die gesamte Existenzzeit der Dinosaurier, Pliosaurier, Plesiosaurier, Pterosaurier und aller Tiere, die während der Trias, des Jura und der Kreidezeit lebten. Ihr befindet euch in der Welt des vereinten Mesozoikums.«
»Warum denke ich schon wieder an so einen Mist? Dieser bescheuerte Traum geht mir einfach nicht mehr aus dem Sinn. Aber es war verdammt noch einer nur ein Traum«, sprach das Mädchen mit sich selbst, band ihre Haare fester zusammen und atmete tief ein und aus. »Nur ein Traum. Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte sie sich und verließ die Küche, während ihr Herz noch immer sehr schnell schlug und Bildsequenzen ihres Traumes vor ihr aufblitzten und ihr das Gefühl gaben, sie habe all das wirklich erlebt.
»Sophie! Ich glaube, mir geht’s heute nicht so gut. Ich leg mich wieder ins Bett, okay?«, rief sie ihrer älteren Schwester zu und kuschelte sich zurück in ihr Bett.
Celine hoffte, dass sie noch einmal einschlafen würde und vielleicht etwas anderes träumte. Wenn sie dann erneut wach werden würde, hätte sie die Erinnerungen an diesen seltsamen Dinosaurier-Traum wieder verloren. So der Plan.
Aber sie schlief nicht ein. Sie wälzte sich von einer Seite zur anderen. Stand wieder auf, öffnete das Fenster. Legte sich wieder hin. Wälzte sich hin und her. Stand wieder auf und schloss das Fenster und setzte sich dann auf das Bett, um einfach nur dazusitzen und die Zimmerwand anzustarren.
Sie konnte nach wie vor an nichts anderes denken, als an Dinosaurier die mit ihr sprachen. Dinosaurier, die ganz anders aussahen, als die, die sie jetzt auf den Postern an ihrer Wand anstarrte und die dümmlich, mit weit aufgerissenen Mäulern zurück starrten.
»Ich kann mich mit ihr unterhalten und ich kann mit jedem anderen Wieder-Geborenen reden. Aber ich kann nicht mit Erst-Geborenen sprechen, die einer anderen Art angehören.«
Celine hörte nun eine weibliche Stimme in ihrem Kopf widerhallen. Die Stimme eines Sauropoden. Sie hörte jene Worte, die sie in ihrem Traum zu sagen bekam. Je mehr Zeit verging, desto mehr Erinnerungen daran kamen in ihr hoch und je mehr sie sich daran erinnerte, desto mehr hatte Celine das Gefühl, dass es gar kein Traum war.
Was hatte ihre Schwester vorhin gesagt?
»Ich hab es gleich in die Waschmaschine gesteckt, nachdem wir zurück waren.«
Was hat sie gemeint? Wo waren wir denn gestern Abend? Celine war sich sicher, dass sie in ihrem Zimmer gewesen war – den ganzen Tag. Sie wollte allein sein, niemanden sehen und an ihre geliebte Oma denken, die sie nie wiedersehen würde. Aber war da nicht noch etwas? Hatte sie nicht das Fenster zum Lüften geöffnet?
Sie ging erneut zum Fenster und blickte auf die andere Straßenseite, so wie sie es gestern Abend getan hatte. Die Laterne! Als ihr Blick auf die Laterne gegenüber traf, erinnerte sie sich an dieses komische Tier, welches sie darunter gesehen hatte.
»Bin ich dem Vieh nicht hinterhergelaufen?«, fragte sich Celine. »Ja! Ich bin ihm gefolgt, bis ich es nicht mehr gesehen habe. Und dann, dann war plötzlich so ein Licht um mich und ...« Celine fasste sich angestrengt nachdenkend an den Kopf. »... ich weiß nicht mehr, was dann war!«
Instinktiv berührte ihre linke Hand den Opal, der um ihren Hals hing und sie spürte eine seltsame Wärme von ihm ausgehen. Dann, wie aus dem Nichts hörte sie ein hohes Piepsen in ihrem Zimmer, wie ein Vogel oder ein anderes Tier. Celine drehte sich ruckartig um und sah ein kleines, befiedertes Wesen auf ihrer Kommode hocken, welches sich ausgiebig streckte und gähnend seine zierlichen Kiefer mit vielen spitzen Zähnen darin aufriss.
»So- Sophie!«, rief sie ungläubig ihre Schwester herbei. »Sophie, komm mal schnell her. Hier ist so ein komisches Tier in meinem Zimmer!«
»Ich weiß«, sagte Sophie mit der Ruhe eines schlafenden Faultiers. Sie schien bereits seit einer Weile an Celines Türrahmen gelehnt dagestanden zu haben.
»Wie, du weißt? Hast du das angeschleppt?«, fragte Celine und schaute abwechselnd zu ihrer Schwester und dem Federtier.
»Das da nicht. Das gehört dir. Ich habe mein eigenes«, sagte Sophie und klang erneut sehr kryptisch.
»Wie, das gehört mir? Was ist das und woher kommt das?«, fragte Celine, deren Herz nun wieder bis zum Hals schlug.
»Du kannst dich wirklich an nichts mehr erinnern, was?«, fragte Sophie und schmunzelte ihrer kleinen Schwester zu, während hinter ihren Beinen ein zweites Federtier hervorlugte.
»Erinnern? An was erinnern?« Celine stellte diese Frage zwar, aber sie hatte das Gefühl, die Antwort darauf bereits zu kennen.
»An den Ort, an dem wir gestern Abend waren«, sagte Sophie und hielt, wie zum Beweis ihren Opal nach oben.