Anna und Petra waren fertig mit den Nerven. Sie saßen nun seit einigen Wochen aufeinander. In der gemeinsamen WG hatten sie sich immer gut verstanden, doch während der Ausgansbeschränkung sahenn sie sich mit neuen Konflikten konfrontiert. Man war im Wohnzimmer nun nicht mehr so oft allein und manchmal wollten sie dennoch beide alleine dort sein.
Es gab keinen wirklichen Grund, doch sie begannen, sich um den Platz auf dem Sofa zu streiten oder über den Putzplan. Es war einfach angespannter geworden. Und gerade an Ostern, wo beide gerne zu ihren Familien gefahren wären, es aber nicht durften, kochte das Fass über. Sie hatten ein schönes Osterfrühstück gedeckt, doch dann, als Anna mit der Kaffeekanne aus der Küche kam, stolperte sie über ein Paket, dass Petra dort abgestellt hatte.
Der ganze Kaffee platschte aus der Kanne auf den Teppich, gleichzeitig schlug Anna mit dem Knie hart auf den Boden und schrie auf. Es schmerzte und es schmerzte noch mehr, dass Petra erst lachte und dann ihr ganzes Mitleid dem Teppich galt. Sie machte sich schnell daran den Fleck aufzuwischen und eigentlich hätte Anna dafür dankbar sein können, doch sie hatte noch keinen Kaffee gehabt und war von einem langen Telefonat mit ihrem Freund am letzten Abend immer noch müde und etwas aufgewühlt. Auch Petra schwor auf den Kaffee und war sauer, dass sie nun länger auf ihn warten sollte, auch wenn es nur wenige Minuten waren. Hinzu kam, dass der schöne weiße Teppich ihr gehörte und sie bezweifelte, ob er den Kaffee wieder hergeben würde. Anna gab sich schließlich einen Ruck Petra zu helfen und nahm auch einen Lappen und Seife zur Hand. Beide vermieden es, zu sprechen und versuchten sich nicht in die Quere zu kommen. Irgendwie vergrößerte die Arbeit auf dem Fußboden die schlechte Laune der beiden und Anna ging schließlich einfach mit etwas zu Essen auf ihr Zimmer, während Petra einen neuen Kaffee aufsetzte. Als Petra dann alleine am Tisch saß brach sie über dem warmen Toast in Tränen aus und fragte sich, was nur in dieser ihrer kleinen Welt los sei. Hatte sie nicht völlig falsch reagiert. Warum war sie nur so wenig sensibel für Anna, die doch mittlerweile eigentlich ihre beste Freundin war. Als Petra und Anna zusammen gezogen waren, hatten sie sich nicht gekannt, doch das hatte sich schnell geändert. Sie waren Freunde und nun so etwas?
Still räumte Petra den Tisch ab. Anna hatte sich noch einmal schlafen gelegt und so hörte sie nicht, wie ihre Freundin etwas später das Haus verließ. Als sie aufwachte fühlte sie sich schon viel besser. Irgendwie wollte sie Petra nun umarmen, doch als sie vor ihrer Zimmertür stand fürchtete sie plötzlich Petra könnte immer noch böse sein. Sie warf einen Blick ins Wohnzimmer, wo immer noch ein leichter Schatten von dem Fleck auf dem Teppich zu sehen war. Anna war sich unsicher.
Sie entschied sich ein wenig spazieren zu gehen und zog ein paar Schuhe an. Dann ging sie die zwei Stockwerke hinab, aus dem Haus und in den großen Park auf der anderen Straßenseite. Sie lief durch den Park bis zu ihrem kleinen Waldstück. Dieser Ort war einer ihrer Lieblingsplätze. Und nun war er besonders schön, ja jeden Tag schöner. Denn jetzt grünte hier alles. Sie ging auf das Waldstück zu und sog die Gerüche ein. Sie würde völlig verändert sein, wenn sie wieder heraus kam, so stark drangen diese Eindrücke in ihr Bewusstsein. Sie schlug den linken Weg ein, der zu ihrer Bank führte - oh wie sie diesen Ort liebte, wie sehr sie jede Minute genoss, die sie hier verbrachte. Im Winter war sie seltener da gewesen und über die jetzige Krise hatte sie es auch fast vergessen, doch nun fragte sie sich, warum sie nicht öfter kam.
Als sie Ihre Bank hinter den Bäumen erspähte, saß dort jemand. Im Näherkommen erkannte sie Petra und da war plötzlich wieder eine Spannung in ihrem Bauch. Sie wusste nicht, was sie sagen, ob sie sich setzen sollte. etwas perplex setzte sie sich einfach wortlos daneben. Petra hatte die Augen geschlossen gehabt und sichtlich die Sonne genossen, die durch die noch lichten Zweige fiel, aber sobald sich Anna neben ihr niedergelassen hatte, öffnete sie die Augen und sah zu ihr herüber. Einen Moment lang sahen sie sich unschlüssig an, Petra war sichtlich überrascht.
Im nächsten Moment brachen beide in herzhaftes Lachen aus und fielen einander in die Arme. Sie lachten so sehr, dass sie auch weinten und saßen noch ein paar Minuten Arm in Arm dort auf der Bank bevor Anna sagte: "Das ist mein Lieblingsplatz." "Es ist auch mein Lieblingsplatz!", erwiderte Petra und sie begannen erneut zu lachen - Hatten sie nicht ein Jahr hier zusammen gewohnt und hatten doch beide oft diesen Ort besucht, so hatten sie sich doch so schlecht gekannt, dass sie den gemeinsamen Lieblingsplatz nicht kannten.
Vielleicht war das auch ganz gut so gewesen und vielleicht würde sich die eine oder andere auch einen anderen Platz suchen, aber ist es nicht gerade zu verrückt, dass man so aneinander vorbei lebt? Und ist es nicht auf der anderen Seite ein so großes Privileg, wenn ein Platz von mehreren Leuten als ihr persönlicher Lieblingsplatz betrachtet werden kann, ohne dass sie sich dabei in die Quere kommen?