Es war unsere Abschlussfeier. Juhu, wir hatten die ersten zehn Jahre in der Schule überstanden. Natürlich wussten wir, wer auf welche weiterführende Schule gehen würde und wer von uns sich mit der Mittleren Reife begnügte. Peter, Christian und Michael hatten eine andere Zukunft gewählt. Sie hatten Ausbildungsverträge in der Tasche und wir alle waren happy, diese öde Horrorzeit beenden zu können. Von den Mitschülerinnen hatten Helga und Susanne ebenfalls eine andere Karriere geplant. Natürlich lagen wir uns in der Aula in den Armen und freuten uns auf die abendliche Abschlussfeier mit zwei Parallelklassen zusammen in einer Kneipe.
Irgendwie dachte in diesem Moment keiner von uns wirklich an die Zukunft und die Realität. Das einzige was zählte, war der Stapel Papiere, die wir Mittags in der Aula bekommen hatten. Zuhause endlich den Ballast der vergangenen Jahre abzustreifen war ein erstes Ziel. Und sich danach auf die Fete am Abend freuen, versüßte den Nachmittag, die man im Badezimmer verbrachte. Ich musste noch zu meiner Vizeoma, ins Altenheim, um auch ihr die Zeugnisse zu zeigen. Zur Feier des Tages schenkte sie mir 5 DM und nach einer Stunde ging es nach Hause, um sich auf die Feier vorzubereiten. Irgendwie wirkte jetzt alles wie eine unbekannte und abenteuerliche Welt, die es zu erobern galt. Und die Freude und Trauer über die Veränderungen spiegelten sich in vielen kleinen Gewissheiten. Eine war, an einem weiteren Schulexperiment wirrer Pädagogen teilzunehmen, die zwanghaft stetig alles verändern wollten.
Eine zweite war, dass viele Mitschüler zu anderen "Neugestalteten Gymnasialen Oberstufen" abwanderten und wir in der 11 Klasse mit Sicherheit einige neue Mitschüler kennen lernen würden. Zur Feier des Tages gab es sogar mein Lieblingsessen und zwei Nachbarinnen, steckten mir auch noch ein wenig Geld für die Feier zu. Die eine, weil sie zu oft mit meiner Mutter getratscht hatte und die andere, weil ich ihrer Tochter ab und an Nachhilfe gegeben hatte. Gut gelaunt legte ich mich noch hin und danach packte ich die Abschiedsgeschenke und die Abschlussrede in meine Umhängetasche. Es war mir nicht recht, dass ich die Rede halten sollte, da ich manche Formulierungen für zu hochtrabend und erlogen hielt. Zudem lag es mir nicht manchem Lehrer Honig ums Maul schmieren zu müssen, nur weil irgendeine Funktion an der Schule ausübten. Schließlich war ich Schüler in Bremen, also einem Horrorbundesland, in dem Lehrer existierten, die eine Nazi-Vergangenheit besaßen oder Linksradikalen, die Schüler als faschistischen Abschaum bezeichneten. Mit Glück traf man auch mal auf Lehrer, die einfach nur unterrichteten und Noten verteilten. Aber das Organisationskomitee hatte diese netten Umschreibungen der nicht existenten Realität nun mal ausgewählt, die ich schwülstig in den Raum werfen sollte.
Pünktlich war ich in der Kneipe und sprach mich mit den anderen Klassensprechern ab, wer in welcher Reihenfolge die erlogenen und kreativ ausgestalteten Lobeshymnen auf unsere Lehrer halten sollte. Birgit war die erste, Thea die zweite und ich hatte die Ehre als letzter Redner die erlogenen Danksagungen in den Raum zu entlassen. Wir kontrollierten noch die Beschriftungen auf den Geschenken und dann füllte sich endlich die Ausflugsgaststätte. Lehrer und Mitschüler trudelten ein, bis auf unsere ehemalige Klassenlehrerin Frau Trupper, die dank einer gerichtlichen Verfügung inzwischen aus dem Schuldienst entfernt worden war.
Die Beweihräucherung der Lehrerschaft hatte fast eine Stunde gedauert und endlich spielten wir unseren Klassensong, den Hermann und Torty auf der vorletzten Klassenfahrt komponiert hatten (Ich trink ein Aldi-Korn). Danach wurde wirklich ausgelassen gefeiert. Obwohl manche Tränen bei zu vielen Mitschülern flossen. Als ich mal draußen Luft holen wollte näherte sich mir eine Mitschülerin, aus einer Parallelklasse und wir redeten und machten noch etwas anderes, abseits der munteren Feier. nach diesem solidarischen Akt der Hingabe kehrten wir zurück. So gegen 23:00 Uhr verließen die ersten Mitschülerinnen und Mitschüler die Feier. Hände wurden geschüttelt, Abschiedsküsse ausgetauscht und manche illusorischen Eide geschworen. Gegen Mitternacht tranken wir Jungs noch eine Gerstenkaltschale und dann endete das Fest mit dem Aufräumen. Michael und Christian drückten mir noch einmal die Hand und dann packte auch ich meine Klamotten, um nach Hause zu radeln.
Am nächsten Morgen bekam ich einen Anruf, der sämtliche Freuden der letzten Tage und Stunden pulverisierte. Ein Mitschüler hatte offenbar nicht den Weg nach Hause gefunden. Acht Mitschüler trafen sich am Lokal und wir suchten zusammen mit der Polizei sämtliche Weg ab, um Michael zu finden. Gut eine Stunde später erfuhren wir, dass Michael gefunden worden war und er leider schon auf höchst tragische Weise verstorben war. Betäubt von dem Schock erfuhren wir, das die Polizei umgehend die Eltern von der Tragödie informieren wollten. Wie begossene Pudel standen wir danach zusammen. Volkmar erklärte uns nun die Tragik dieser Familie. "Scheiße! Der größere Bruder von Michel war erst kürzlich bei einem Verkehrsunfall verstorben und nun auch noch der zweite Sohn, Michael. Das ist ein Drama für die Eltern." Torsten plante den Kontakt zu den Eltern aufzunehmen und er würde uns verständigen. Es wurde für uns junge Hüpfer eine bittere Trauerfeier und der gesamten Klasse fehlten die Worte. Tränen flossen aus vielen Augen und wie im Wahn folgten wir den den Worten des Pastors. Mit so einem tiefen Einschnitt in unser Leben hatte keiner von uns gerechnet. Tage später war ich bei Michels Eltern, um alle Sachen an uns zu übergeben, die noch aus der Schulzeit in seinem Zimmer standen. Schweigen dominierte die wenigen Minuten und die rot geränderten Augen der Mutter erdrückten mich fast, weil ich den Kummer unter der erstarrten Maske deutlich spürte.
Ich spürte das beklemmende Elend der Eltern und über viele Jahre schickten wir Mitschüler danach noch Postkarten von Irgendwo, um die Eltern zu trösten. Wir wussten, dass es diese Eltern nicht leicht hatten und viel Unterstützungen bedurften. Sie sollten spüren, dass auch wir Michael nicht vergessen würden. Von dieser gerne geleisteten Pflicht erlöste uns das gemeinsame Ableben von Michaels Eltern. Jutta eine Mitschülerin schickte mir eine Karte, da sie noch vor Ort wohnte und es mitbekommen hatte. Erst fünf Jahre später bei unserem ersten Klassentreffen konnten wir wirklich von Michael abschied nehmen, denn nun realisierten wir, dass noch mehr Mitschüler und Lehrer nie mehr zu Klassentreffen erscheinen würden.