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Prompt: Mondscheinprinz/ -prinzessin
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<--- Gleichgewicht --->
|18:02 - 18:52 Uhr|
Mit leichten, federnden Schritten lief sie vorwärts. Schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch und wand sich geschickt um die herabhängenden Lianen herum. Kein Geräusch war zu hören, während sie beinahe über die feuchte Erde schwebte. Das Laub schien ihren nackten Füßen auszuweichen, während Glühwürmchen um sie herum flatterten und ihr den Weg wiesen.
Ein sanftes Lächeln lag auf ihren feinen Gesichtszügen, die ernst und fröhlich zugleich wirkten. Die dunkelblauen Augen schimmerten vor Vorfreude und schienen im Licht des Vollmondes gleißend hell zu leuchten, schienen fast hellblau zu sein.
Doch konnte man hinter dem Schleier des Glücks auch einen Schatten erkennen. Schatten, die niemand sonst kannte. Schatten, die es auf der normalen Welt nicht zu finden gab, so dunkel es dort manchmal auch sein mochte. Schatten aus einer vergangenen Zeit. Einer Zeit voller schmerzender und trauriger Erinnerungen, die sich tief in ihre Seele gebrannt hatten und Narben hinterließen, die nie vergehen würden.
Niemand würde diese Last je kennen. Doch es war ihr Schicksal. Mit jedem Mal, wenn sie diesen Pfad entlang lief, wusste sie, dass ein weiterer Teil von ihr sterben würde. Aber was wäre die Welt ohne Opfergaben?
Ihre Hand strich sanft über die Rinde der Bäume, an welchen sie vorbei schritt. Fühlte das Leben, dass durch den Stamm pulsierte und sie mit neuer Kraft erfüllte. Lies sich davon berieseln und leiten. Mit geschlossenen Augen fand sie ihren Weg, scheinbar planlos und doch in Wahrheit so gezielt liefen ihre Füße über die Erde. Drückten sich scheinbar mühe- und kraftlos davon ab, schienen tatsächlich nur eine hauchdünne Verbindung herzustellen, welche nicht länger als eine Millisekunde anhielt.
Jeder Baum, jede Pflanze, jedes Tier, an dem die Frau vorbeikam, schien urplötzlich zu erstrahlen. Alles, was Beine hatte, folgte dem Lichtwesen, das immer noch elegant durch den sich bereits lichtenden Wald lief. Hasen hoppelten, Rehe sprangen, Füchse liefen und Wölfe rannten, um diesem seltenen Schauspiel beizuwohnen.
Alles Leben bewunderte die Eleganz dieser jungen Frau. Die nussbraunen Haare schwebten schwebten wie ein sanfter Schleier hinter ihr, erweckten den Eindruck, als würde sie fliegen. Das luftige Sommerkleid umwehte sanft die Beine und schien mit dem Wald um sich herum zu verschmelzen.
Dann erreichte sie den Waldrand, doch ihre Reise war noch nicht zu Ende. Ihre Augen leuchteten noch einmal auf und die Energie schien in einer ungeheuren Geschwindigkeit durch ihren Körper zu strömen. Voller Kraft strotzte dieses scheinbar so zerbrechliche Wesen, während es über die weite Ebene lief, die sich vor ihr erstreckte.
Weit und breit war nichts zu sehen, außer einigen Felsen und kleinen Büschen, welche das Bild der wilden Landschaft perfekt unterstrichen.
Der rote Vollmond schien freundlich und gleichzeitig verhängnisvoll lächelnd auf sie herab. Er leuchtete ihr auch hier den Weg, während die Frau, immer noch gefolgt von Tierscharen, über die Weite flog. Immer weiter lief sie, bis sie zu einem sanften Hügel kam und auf dessen Kuppe zum Stehen kam.
Sie breitete die Arme aus, spürte ganz bewusst den Wind, der ihr durch die Haare fuhr und die kühle Luft, die ihr um die erhitzte Haut strich. Das Kleid, dass in der sich kräuselnden Luft ihren Körper umschmeichelte. Sie spürte, wie sie erfüllt wurde, vom Glanz des Mondes. Je seltener dieses Gefühl sie gänzlich im Griff hatte, desto mehr genoss sie es. Versuchte, es in ihrem tiefsten Inneren zu verankern. Sie würde es brauchen, in Zeiten, wo sie am liebsten aufgeben würde.
Aber jetzt dachte sie nicht an die Zukunft, oder die Vergangenheit. Jetzt konzentrierte sie sich auf die Gegenwart. Sie fühlte dieses Leben um sich herum. Lenkte ihr ganzes Sein nur darauf.
Und ein glockenhelles Lachen entkam ihrer Kehle, voll und wunderschön klingend, dass es die Herzen aller tief berührte. Es versprach Frieden und Glück. Jeder, der dies hörte, sah mit leuchtenden Augen auf. Und jeder wusste, die Zeit war gekommen. Die Zeit, in welcher die Mondscheinprinzessin endlich wieder Freude über dieses Land bringen würde. Zu welchem Preis sie dies tat, wusste niemand, außer ihr selbst und dem Mond.
Und dann reckte sie ihr Gesicht gen Himmel. Die Sterne strahlten hell vom Firmament herunter und schienen ihr zuzunicken. Es war so weit. Sie lächelte und schloss die Augen. Ließ all die Dunkelheit auf sich wirken, welche sich in diesem Land verbarg. Ließ sich hinein sinken, durchlebte das Leid, welches die Menschen hatten durchleben müssen. Ließ sich fallen, in die unendliche Leere, die diese Welt so lange im festen Griff hatte.
Es schlug wie eine Welle auf sie ein, schien sie erdrücken zu wollen. Die Dunkelheit wollte wieder einmal ihren Willen brechen. Wollte ihre Kraft aussaugen, um sie schließlich zu verschlingen und alles Leben auszulöschen. Um der Welt den letzten Hoffnungsschimmer zu nehmen, der noch existierte.
Doch so einfach machte sie es der Düsternis nicht. Sie lebte in diesen wenigen Sekunden die Leben tausender Menschen. Sie litt, wie die Menschen gelitten hatten, weinte, wie die Menschen geweint hatten, verlor, was die Menschen verloren hatten.
Aber ihre Seele war stark, stärker als die dunkle Macht, die sie einnehmen und ihr Eigen nennen wollte. Ihre Seele war so stark, dass sie dieses Böse bündeln und in einem imaginären Gefäß sammeln konnte. Trotzdem blieb immer ein kleiner Teil davon in ihrem Herzen zurück. Wie Krebs breitete sich die Dunkelheit langsam aber stetig in ihr aus, befiel ihren Körper.
Immer, wenn sie beim Aufgang des roten Vollmondes diese Reise beschritt und schließlich in ihre Welt zurückkehrte, ließ sie einen Teil ihrer Seele auf der Erde.
Genau hier, auf diesem Hügel, verlor sie jedes Jahrzehnt ein Bruchstück ihres Herzens. Denn jeder Kampf gegen das drohende, dunkle Unheil hatte seinen Preis. Und die Mondscheinprinzessin wusste dies. Trotzdem erfüllte sie ihr Schicksal.
Und so öffnete die Frau auch diesmal ihre Augen, nahm die Dunkelheit in ihre beiden Hände, führte diese zu ihrem Mund und hauchte hinein. Ein helles Licht schien plötzlich darin zu erwachsen, wuchs und drückte gegen ihre Handflächen. Es pulsierte, verlangte nach der Freiheit. Und dann, endlich, öffnete sie ihre Finger, ließ das Licht in die Nacht gleiten. Wie eine gewaltige Kugel schien es sich überall über den Erdball auszubreiten, wurde wie von einer Druckwelle überallhin geblasen. Verbreitete dieses unverwechselbare Gefühl von Gleichgewicht über den Lebewesen.
Die Mondscheinprinzessin lächelte und sah den Funken nach, wie sie sich zerstreuten und zu einem Teil des Sternenhimmels wurden. Zu Himmelskörpern, die all die Erinnerungen dieser Welt in sich verkörperten. Jeder einzelne Stern erzählte eine eigene Geschichte dieser Erde. Und jede einzelne Geschichte davon war ein Teil des Universums. Ein Teil des Ganzen. Ein Teil des Gleichgewichts.
Und die Mondscheinprinzessin stand unterdessen still da, spürte erneut, wie ein Seelenstück aus ihrem Körper in die Erde wanderte und ein Teil ihrer Kraft mit ihm ging. Irgendwann war es soweit. Irgendwann würde ihr ganzes Ich unter der Erde dieses Hügels liegen. Irgendwann würde sie erlöst sein von diesem Schicksal und selbst zu einem Teil des Gleichgewichts werden. Irgendwann, sagte sie sich, würde auch sie ihren Frieden finden...