Sie sieht müde aus, mit ihren roten Augen. Nicht mehr voll da. Ausgelaugt. Leergesaugt. Hoffnungslos?
Ich kann kaum zuschauen, wie sie den Becher an ihre Lippen hebt, Kaffee nehme ich an, vielleicht auch schwarzer Tee. Schwarz wie meine Seele, würde sie witzeln und wir würden uns nur Blicke zuwerfen und unangenehm auf unseren Stühlen hin und her rutschen.
Seitdem ich so viel über sie weiß, fällt es mir schwer, locker zu wirken. Ich ertappe mich dabei, wie ich sie mustere. Ganz genau, nicht flüchtig wie die anderen Kolleginnen. Über den Tag verteilt, damit es nicht so auffällt. Angefangen mit ihren Schuhen, die immer ein wenig schmutzig sind, als sei sie gerade durch Matsch gelaufen, selbst wenn es draußen sonnig ist. Ich stelle mir vor, dass sie umrundet von einem großen Feld aus Matsch lebt. Ein Haus in der Mitte und jeden Morgen der Kampf, bis man aus dem Matsch heraus und auf der Straße gelandet ist.
Ihre Fingernägel sind immer lackiert, aber das genügt nicht, um die Erde darunter zu kaschieren. Unter dem Rot oder Blau kann man dunklen Krümel durchschimmern sehen. Auch jetzt sehe ich den schwarzen Rand rund um das rote Nagelbett. Wenn du sie darauf ansprechen würdest, würde sie einen Spruch darüber machen, dass das passiert, wenn sie sich morgens aus ihrem Grab erhebt, um zur Arbeit zu kommen. Dass man die Erde nie ganz los wird. Ich würde grinsen und hoffen, dass sie die Anstrengung nicht sieht, die es mich kostet.
Ich erwarte immer, dass ihre Jeans von einer dicken Staubschicht bedeckt sind. Aber nichts an ihrer Kleidung wirkt staubig. Oder alt. Oder verbraucht. Manchmal frage ich mich, ob sie jeden Nachmittag neue Sachen kauft, die sie am nächsten Tag anziehen kann. Ich kann mich nicht erinnern, den Pullover schonmal gesehen zu haben, den sie heute trägt. Ich kann mich nicht erinnern, sie je zweimal im gleichen Outfit gesehen zu haben.
Anfangs hat mich das fasziniert, eifersüchtig gemacht. Neben ihr fühle ich mich, als trüge ich immer die drei gleichen Hosen, auch wenn es eigentlich fünf sind.
Aber dennoch.
"Du siehst müde aus", würde ich ihr gerne sagen, weil ich befürchte, dass sie auch in fünf Stunden noch hier sitzt, ganz in ihre Akten vertieft. Sie ist die erste die kommt, die letzte die geht. "Zuhause wartet keiner auf die", hast du mal gewitzelt. Das war bevor ich dir erzählt hab, wieso. Seitdem bist auch du vorsichtiger geworden. Hätte ich es dir nicht erzählen sollen? Ich hatte lange überlegt, ob noch jemand außer mir über den Artikel stolpern würde. Wer hatte schon Zeitungen von vor zehn Jahren zur Hand, wenn man nicht gerade das Haus der Großeltern ausmistete?
Aber ich konnte es nicht für mich behalten. Weil ich mich nicht traue, sie selbst darauf anzusprechen. Wie spricht man mit jemandem über sowas?
"Ich hab neulich gelesen."
"Weißt du, was ich gestern erfahren hab"
"Du hast garnicht erzählt, dass du"
"Es tut mir so leid."
Es tut mir leid. Aber bis sie es selbst erzählt, bleibt nichts, als zuzuschauen. Wie sie müde aussieht. Wie die Erde von ihren Fingern krümelt. Wie sie wirkt als sei sie nicht ganz da. Als habe jemand etwas von ihr genommen. Sie weggeblasen.
Wie eine Pusteblume.
Übrig bleibt nur der leere Stengel.