Marie vergräbt den Kopf in den Händen. Ihre Haare bilden einen Vorhang, hinter dem sie sich am liebsten verstecken würde. Aber sie weiß, dass das keine Option ist. Also hebt sie den Kopf wieder und starrt stattdessen aus dem Fenster der Straßenbahn. Sie versucht den Typen auszublenden, aber es gelingt ihr nicht. Dong, dong, dong, schlägt er mit seinem Metallstab gegen eine der Haltestangen. Marie schaut zur Frau ihr gegnüber, ihre Blicke treffen sich kurz. Die andere rollt mit den Augen und seufzt, Marie nickt und zuckt mit den Schultern. Dann werden sie wieder zu Fremden.
Als die Anzeige ihre Haltestelle zeigt, steht Marie an der Tür noch bevor die Bahn zum Stehen kommt. Die Fahrgäste, die sich schon um die Tür scharren, machen ihr Platz, als sie sich an ihnen vorbei drängt. Stehen bleibt sie erst an der Treppe, als sie sicher ist, das Geräusch nicht mehr zu hören. Stattdessen hört sie den Lärm der Stadt, die Menschen um sich rum, die Autos über ihr. Ein tiefer Atemzug, bevor sie sich daran macht, die Stufen zu erklimmen.
Eigentlich sollte die Station einen Aufzug bekommen, aber die Bauarbeiten wurden nie beendet. Sie ist sich nicht sicher, ob sie je beendet werden, seit sich die Lage so zugespitzt hat, hat sie keine Bauarbeiter mehr gesehen, obwohl sie jeden Tag hier ist. Oben angekommen braucht sie einen Moment um zu Atem zu kommen. Die Sonne ist fast untergegangen, die ersten Laternen flackern gegen die Dunkelheit an. Mit einem weiteren tiefen Atemzug packt sie ihre Tasche fester und macht sich auf den Weg zu ihrer Wohnung.
Sie ist kurz irritiert, dass die Tür nicht abgeschlossen ist. Andreas hatte gesagt, er die nächsten Tage bei seinen Eltern. Als sie noch nach dem Lichtschalter tastet, geht das Licht plötzlich an. "ÜBERRASCHUNG!" schallt es ihr entgegen, Marie stolpert einige Schritte zurück, ehe sie sich fängt. Die Blicke der anderen versteinern, dann lächelt sie. Diana ist die erste, die ihr um den Hals fällt, sie drücken sich umständlich. Andreas steht etwas abseits, er wirkt seltsam deplatziert, obwohl es hauptsächlich seine Freunde sind. Aber er hebt sein Glas und prostet Marie zu, die die Geste erwidert und einen Schluck von ihrem Traubensaft nimmt. Dann führt man sie zur Couch und Diana drückt ihr eine Tüte in die Hand. "Geschenke", flüstert sie ihr zu, als brauchen die Päckchen im goldenen Geschenkpapier eine Erklärung. Marie lächelt weiter, drückt kurz Dianas Hand und ist einfach nur froh, das weiche Kissen unter sich zu spüren. Sie hatte sich auf einen ruhigen Abend gefreut, wollte die Füße hochlegen und früh ins Bett gehen. Stattdessen lächelt sie und nickt, packt einen Strampler aus und ein Mobile. Sie bedankt sich bei jedem einzelnen, ohne zu wissen, welches Geschenk von wem kommt. Die anderen Lachen und plaudern, sodass kaum auffällt, dass sie wenig sagt, Diana hat ein Partyspiel mitgebracht und beginnt die Regeln zu erklären. Andreas ist auf dem Balkon verschwunden, vermutlich zum Rauchen und nur Kevin sieht so verloren aus, wie Marie sich fühlt. Er steht gegen die Wand gelehnt, als er ihren Blick bemerkt hebt er sein Bier mit einem schiefen Grinsen, das ihr sagt, dass er versteht.
Sie haben sich noch nie lange unterhalten, er gehört irgendwie am Rande zur Clique, über Sarah oder Nadine, Marie ist sich nicht sicher. Andreas hatte ihr etwas über ihn erzählt, aber sie wirft die Namen und Geschichten noch immer durcheinander. War er derjenige, der jung geheiratet hatte und seine Frau verloren hat? Oder der, der seit Jahren in Sarah verliebt war, was allen außer ihr klar war? Gerne hätte sie ihn gefragt, aber in dem Moment ließ Nadine sich neben sie fallen und lenkte ihre Aufmerksamkeit ab.
"Na, wisst ihr schon, was es wird?"
"Wir wollen uns überraschen lassen", nimmt Andreas ihr die Antwort ab, sie hat nicht gehört, dass er hereingekommen ist. Er lehnt sich neben ihr an die Couch, gibt ihr einen Kuss auf den Kopf, etwas das er nie tun würde, wenn sie alleine sind. Sie kann den Rauch riechen, der von ihm ausgeht und ihr Magen hebt sich.
"Wie bei meiner Schwester..." redet Nadine weiter, ohne dass sie ihr zuhört. Ihr Blick wandert wieder durch den Raum. So viele Leute. Sie entdeckt Kevin, wie er mit Diana spricht.
"Ist das nicht die beste Babyparty ever?", hört sie. Kevins Blick findet ihren. Er versteht. "Und wie", stimmt er Diana zu.