Die Lichter wechselten so oft die Farbe, er hatte längst den Überblick verloren. Wo er sich befand, wo die anderen waren, wer es war, der sich da an ihm rieb. Er hatte die Augen geschlossen und hätte nicht einmal die Haarfarbe der Frau benennen können, dass es eine Frau war wusste er nur, da ihre Hände die seinen zu ihren Brüsten geschoben hatten. Er hatte die Finger schnell wieder weggezogen, aber sie war geblieben und rieb sich weiter an ihm. Gerne hätte er sich darüber gefreut, aber seine Emotionen waren irgendwo im Laufe des Abends verloren gegangen. Schon bevor er seine Freunde verloren hatte, vielleicht hatte er sie deshalb nicht gesucht.
Jetzt blieb er stehen, mitten im Getümmel, im Flackern und Flimmern, der Lautstärke, dem Wummern des Basses. Die Frau vor ihm bewegte sich noch kurz weiter, ehe sie sich von ihm löste. Als er die Augen öffnete, war sie bereits mit der Menge um ihn herum verschmolzen. Vielleicht die Dunkelhaarige, die mit dem Typen neben ihm tanzte? Vielleicht die Blone, die sich ihren Weg zur Bar bahnte? Im Grunde war es ihm egal.
Holger betrachtete die wackelnden Leiber um sich herum und seufzte. Vor einigen Monaten noch, hätte er nicht gezögert, hätte die Erstbeste abgeschleppt und sich einen schönen Abend im Hotel gemacht. Jetzt langweilte ihn schon der Gedanke. Noch mehr langweilte ihn nur der Gedanke, nach Hause zu fahren und sich zu seiner Frau ins Bett zu legen. Ihr beim Atmen zuzuhören, ganz gleichmäßig, als sei sie ein Roboter. Mit diesem leichten Zischen am Ende, wenn sie ausatmete. Er hasste dieses Zischen. Die Regelmäßigkeit. Es wäre ihm lieber gewesen, sie würde schnarchen, husten, zucken. Stattdessen war da dieser immerwährende Rythmus, der gemeinsam mit dem Ticken der Uhr verkündete, dass er mit jedem Atemzug ein wenig seines Lebens verlor.
Mit einem Ruck riss er sich aus der Vorstellung und kehrte in die überfüllte Lagerhalle zurück. Sie alle vergeudeten wertvolle Zeit. Nicht, dass ihnen noch viel blieb. Er hatte die Idee gut gefunden, das was noch blieb zum Feiern zu nutzen, sich wegzuschießen mit Alkohol und was man hier sonst noch bekam. Aber die Erfüllung hatte nicht lange angehalten.
Seitdem er seinen Job verloren hatte, gab es wenig, das ihm auch nur ein kurzes Gefühl der Erfüllung geben konnte. Anfangs hatten sie sich noch getroffen, die Kollegen, die jetzt keine mehr waren. In Restaurants und Bars, einmal waren sie tanzen gewesen, selbst die verklemmte Maren hatte sich von ihm auffordern lassen. Jetzt hörte er nichts mehr von ihnen. Konnte höchstens ihre Posts bei Facebook und Instagram verfolgen, die Jobsuche, die romantischen Abendessen und die Feierexzesse. So war er hier gelandet, Er hatte das Bild mit der Location in Marens Story gesehen. Natürlich war er ihr nicht begegnet, zu viele Verzweifelte, um eine einzelne Person zu finden. Aber er hatte den Gedanken gemocht, dass er vielleicht einen Blick auf sie erhaschen würde in der Mange. Dass sie auch hier war, dass er nicht alleine abstürzen würde.
Und jetzt löste selbst der Gedanke an einen Absturz nichts mehr in ihm aus.
Langsam begann er, sich durch die Menge zu schieben. Er musste hier raus, brauchte Raum, Luft, Kälte. Der erste Atemzug tat gut, beim zweiten brannte die eisige Luft in seiner Lunge. Und der Rauch, den man nirgends los wurde. Seine Frau fluchte seit Tagen über die Aschereste, die sich in der Wäsche absetzten, kaum, dass sie sie rausgehängt hatte. Verfluchte ihn, weil er keinen Trockner hatte kaufen wollen. Verfluchte die Kinder, weil die so viel Wäsche machten. Und er saß nur da, nickte ab und an, machte einen zustimmenden Laut, wenn sie ihn zu lange ansah. Und wartete.
Er wusste nicht worauf, aber er wusste, er würde es wissen, wenn es geschah.
Solange folgte er seinem Rythmus. Morgens duschen, anziehen, aus dem Haus gehen. Durch die Gegend laufen, sich in irgendein Café setzen, Essen, laufen, nach Hause kommen und bei seiner Frau über seinen Job meckern. Abendessen, umziehen, rausgehen, suchen, feiern. Heimgehen, ins Bett lagen und morgens von Neuem starten. Und warten.