In der Ferne rauschte das Meer.
Es war so leise, dass es mehr wie ein Summen klang. Marie schloss die Augen und versuchte sich die Wellen vorzustellen, die gegen die steinige Küste brandeten. Sie hatte das Wasser schon lange nicht mehr gesehen, zu wenig Zeit zwischen all den Terminen, ihren und Tims. In dem Moment bereute sie es, dass sie damals nicht darauf bestanden hatte, die Wohnung mit Blick aufs Wasser zu nehmen. Ja, sie war teuer gewesen und ihr Gehalt hätte die Fixkosten nur gerade so abgedeckt. Aber sie und Tim hätten jeden Morgen die Aussicht genossen. Abends, wenn Tim im Bett lag, hätte sie sich mit einem Tee ans Fenster gesetzt und beobachtet, wie sich der Mond in den Wellen spiegelt.
Stattdessen war das Meer ein bloßes Summen im Hintergrund, das sie an eine andere Wohnung erinnerte, in der das Summen der Autobahn sie begleitet hatte. In den ersten Wochen nach dem Auszug hatte sie kaum schlafen können. Zu still war es bei ihren Eltern, nur Natur drumherum, zu leise um ihre Gedanken zu übertönen. Ihre beste Freundin hatte ihr schließlich eine Aufnahme von Straßengeräuschen geschickt, die sie leise abspielen konnte. Ihren Eltern hatte sie nichts davon erzählt, sie wollte den mitleidigen Blick ihrer Mutter nicht sehen. Das angedeutete Kopfschütteln ihres Vaters, das ihr den Hals zuzog wenn sie nur daran dachte.
Ich hab dir doch gesagt das wird nichts, sagte sein Blick. Hättest du mal auf mich gehört. Dann wärst du jetzt an der Uni und würdest einen Abschluss machen. In ihrem Kopf hatte sie diesen Streit bis zum Ende geführt. In der Wirklichkeit hatte sie die gemeinsamen Abendessen so kurz gestaltet, dass nie Zeit für diesen Streit blieb. Aber sie wusste, dass er noch in ihrem Vater schwelte. Ich hab von Anfang an gesagt Andreas taugt nichts.
Tim gab ein leises Grummeln von sich und sie ging die paar Schritte zu seinem Bettchen. Er hatte sich freigestrampelt. Vorsichtig entwirrte sie die rosa Decke und deckte seinen kleinen Körper zu.
Sie hatte auch gewusst, dass Andreas nichts taugte, aber er war da gewesen. Er hatte ihr Komplimente und Geschenke gemacht. Hatte sich jedes Mal erkundigt, ob sie gut nach Hause gekommen sei. Und sie war so einsam gewesen ohne ihre Schulfreundinnen. Sie hatte gehofft, an der Uni genauso schnell Anschluss zu finden wie in der Schule, aber der Campus war so viel größer, die Leute so viel einschüchternder. Andreas hatte gesehen, wie verloren sie sich gefühlt hatte und angeboten, sie herumzuführen. Was störte es da, dass er schon älter war. Dass er noch immer studierte. Dass er schon drei Fächer abgebrochen hatte. Er hatte nach ihrer Nummer gefragt und sie hatte nicht lange gezögert.
Dann war alles so schnell gegangen. Sie war so froh gewesen aus dem Studentenwohnheim raus zu kommen, endlich eine eigene Küche, sogar ein Gästezimmer. Sie hatte sich gefreut, dass ihre Eltern sie besuchen konnten, ihnen stolz die Wohnung gezeigt. Andreas hatte sich sogar ein Hemd angezogen, ihr Vater hatte ihr dennoch am gleichen Abend noch eine SMS geschrieben, dass sie sich das gut überlegen sollte. Sie hatte aus Trotz nicht geantwortet.
Mit der Schwangerschaft hatte keiner von ihnen gerechnet. Ja, Andreas mochte die Kondome nicht, weil sie ihm jegliches Gefühl nahmen. Aber sie hatte jeden Morgen ihre Temperatur gemessen. Vielleicht einmal nachts nicht, als Andreas aus der Kneipe zurückkam und sie für Sex geweckt hatte. Aber einmal war keinmal, nicht? Und Andreas hatte gesagt er freue sich, dass er Vater werde. Ja, er hatte danach oft lange gearbeitet, aber er hatte auch ein Bettchen gekauft. Und Farbe, um das Gästezimmer zu streichen. Sie wollte gelb, um neutral zu bleiben, er hatte blau gekauft, für seinen Jungen. Was danach schief gelaufen war, hatte sie nicht verstanden. Je dicker sie wurde, desto weiter hatten sie sich voneinander entfernt. Als habe ihr Bauch sie auseinander gedrückt. Bis sie so weit weg waren, dass sie ihn nicht mehr greifen konnte. Sie war ausgezogen, bevor die ersten Wehen einsetzten.
Marie sah zu, wie Tim sich umdrehte. So klein sein Körper. So groß der Kopf. Andreas hatte ihn nicht sehen wollen. Sie hatte ihm geschrieben, nach der Geburt, keine Reaktion. Als sie es wieder versuchen wollte, hatte er ihre Nummer blockiert.
"Wir brauchen Andreas nicht", flüsterte sie ihrem Sohn zu. "Du hast mich und ich hab dich." Wie als Antwort, murmelte er etwas im Schlaf.
In der Ferne rauschte das Meer.