"Wenn die Sterne weinen?"
"Die weinen nicht, die fallen."
"Und wo fallen sie hin?"
Mark öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Marie beachtete ihn garnicht, ihr Blick war weiterhin in den Nachthimmel gerichtet, den Kopf ganz im Nacken, den Mund leicht geöffnet. Süß sah sie aus, eingerollt in die dicke Decke wie ein Burrito.
"Auf die Erde", half Hannah. Er schenkte ihr ein dankbares Lächeln.
"Aber gehn die dann nicht kaputt?"
"Sie werden so heiß beim Fallen, dass sie vorher verbrennen", erklärte Hannah weiter und zeigte auf einen weiteren fallenden Stern. "Siebzehn." Marie hatte ebenfalls die Hand gehoben, als wollte sie die Bahn des Sterns nachfahren. Oder ihn auffangen. Sie hatte den Mund geschlossen und kaute stattdessen auf ihrer Unterlippe herum, was ihm einen kurzen Stich in die Brust jagte. Luisas Lippen waren ganz spröde gewesen, so oft hatte sie sich dabei ertappt. Sie fand es eine nervige Angewohnheit, er fand es süß. Dennoch hatte er sie hin und wieder damit aufgezogen. Wenn sie zum Abendessen eingeladen waren und sie Lippenstift auftrug. Ob sie sich das Geld nicht besser sparen würde, wenn sie den Lippenstift eh abkaue.
"Also bleibt garnichts davon übrig", holte Marie ihn in die Gegenwart zurück. Ihre kleine Faust schloss sich in der Luft um einen unsichtbaren Stern zu fangen. "Nur ganz selten", antwortete er und wuschelte ihr durchs Haar. Erstmals seit sie hier raus gekommen waren, wandte sie den Blick vom Himmel ab, um ihn anzusehen.
"Also manchmal schon." Es war keine Frage. Auch keine Feststellung. Ihr Blick sagte, dass es sich bei den Worten um ein Versprechen handelte. Mark sah sie einfach an, ihr Blick war schon wieder in den Himmel gewandert. Er schaute zu Hannah, die mit ähnlichem Eifer Ausschau hielt. Er schmunzelte bei der Erinnerung daran, wie viel Angst er gehabt hatte, dass die beiden sich nicht verstehen würden. EIn Treffen und Marie hatte auf dem Rückweg darauf bestanden, Hannahs Hand zu halten. So vertrauensselig. Auch das hatte sie von ihrer Mutter. Genau wie ihre Entschlossenheit.
Die Entschlossenheit, die er jetzt in ihrem Blick sah, nicht nur ihrem Blick, in der Art wie sie den Kopf hielt. Wie sie die Faust ballte. Marie würde einen gefallenen Stern besitzen. Nicht heute, nicht morgen, aber sie wäre nicht ewig sechs Jahre alt. Sie würde in der Schule die Lehrer mit Fragen überhäufen. Zum Geburstag würde sie sich ein Buch über das Weltall wünschen. Dann ein Teleskop. Er Würde mit ihr ins Observatorium fahren, um die Fragen zu stellen, auf der ihre Lehrer ihr keine Antwort geben konnten. Und sie würde lesen, alles was sie dazu in die Finger bekam. Die leuchtenden Sterne an ihrer Decke würden Postern mit echten Sternenkonstellationen weichen, das Mobile einem Planetenmodell. Sie würde ihm zuliebe anfangen, etwas technisches zu studieren, aber sie wüssten beide, dass sie die meiste Zeit in Astronomievorlesungen verbringen und nach drei Semestern dann endgültig wechseln würde. Und nach ihrem Abschluss würde sie sich einem Forschungsteam anschließen, bei dem man kaum Geld verdiente, aber ganz nah dran war, an Hubble und wie sie noch alle hießen. Dort würde sie einen jungen Mann kennenlernen, auch wenn sie eigentlich keine Zeit für sowas hatte. Aber sie würden feststellen, dass sie sich nicht nur gut über Sterne unterhalten können. Die gemeinsame Wohnung hätte einen Raum nur für ihre Forschungen, größer als das Wohnzimmer, in dem sie sich eh nur aufhielten, wenn Gäste kamen. Er würde Mark um ihre Hand bitten, weil es seine Art von Romantik wäre und ihr dann einen Ring schenken, der keinen Edelstein, sondern ein Stück Stern enthielt. Und den Ring würde sie ihrer Tochter zeigen, wenn sie an einem Abend einen Hügel hinauf steigen würden, um den Perseiden zuzuschauen. Und sie würde ihr erklären, dass die Sterne nicht weinten, sondern fielen. Und dass, wenn man Glück hatte, ein Stück davon zu Boden stürzte und den Menschen half, zu verstehen was da draußen im All passiert. Und das kleine Mädchen würde auf seiner Unterlippe kauen, während es den Stein betrachtet.
Und Luisa würde zuschauen, irgendwo von da oben. Wo er sich irgendwann zu ihr gesellen würde und sie gemeinsam herabschauen würden auf Marie, die mit ihrer kleinen Familie hinauf schaute, den Kopf ganz im Nacken, den Mund ein wenig geöffnet.