Die Strahlen der Sonne bahnten sich nur zaghaft einen Weg durch das dichte Gestrüpp. Clara streckte eine Hand aus und betrachtete das Muster, dass die Schatten darauf malten. Wo die Sonne die Haut berührte, spürte sie sofort die Kraft, die schon jetzt in den Strahlen lag. Am Mittag wäre es in der Sonne kaum auszuhalten.
Mit einem Seufzen drehte sie sich herum und sah hinab auf die Ebene. Der Aufstieg hatte sie viel zu viel Zeit gekostet. Sie würde es nicht vermeiden können, durch die Mittagshitze zu laufen. Eigentlich gab es keinen Grund zu trödeln, dennoch zögerte sie.
Ihr bot sich eine beeindruckende Aussicht. Nicht nur, dass sie über die Wiesen sehen konnte und über das kleine Waldstück dahinter, sie konnte sogar das Glitzern des Sees erahnen, an dessen Rändern sie gestern übernachtet hatte. In der Ferne konnte sie die Umrisse des Gebirges erahnen, versteckt hinter dem Dunst, der hier stets die Sicht erschwerte.
Mit einem weiteren Seufzen rückte sie ihren Rucksack zurecht und wandte sich wieder dem Dickicht zu. Der schmale Pfad, dem sie zuvor gefolgt war, verlor sich fast völlig im dichten Grün. Sie schob einen Farn beiseite und schon nach wenigen Schritten war es, als gäbe es nichts anderes. Das grün beherrschte alles, die Sonne ließ es nur noch mehr erstrahlen. Sie liebte die Natur, aber der Anblick jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Sie war völlig allein. Sie könnte tagelang wandern und würde keinen anderen Menschen treffen. Hinter ihr raschelte es, aber sie drehte sich längst nicht mehr um. Sollte eins der großen Raubtiere seine Scheu überwinden, dann würde ihr ein Blick zurück auch nicht mehr weiterhelfen.
Die ersten paar Tage hatte sie sich ständig umgesehen, jedes Rascheln, jedes Knacken hatte sie zusammenzucken lassen. Dann war ihre Furcht langsam abgeebbt, ersetzt durch etwas viel tieferes. Ein tiefes Unbehagen, das sie auf Schritt und Tritt begleitete und das sich nicht fassen ließ mit Worten. Es machte das Atmen und das Schlucken schwerer.
Mit einer Hand fuhr sie sich über die Stirn, wischte den Schweiß fort, der sich sofort von Neuem zu sammeln begann. Ihre Wasservorräte waren bereits halb verbraucht, auch wenn sie erst gestern am See gewesen war. Oder war es vorgestern gewesen?
Das Gefühl für Zeit ging ihr langsam verloren. Klar, es wurde hell und dunkel und nachts wagte sie sich nicht, weiter zu gehen, aus Angst, zu stolpern oder die Batterie ihrer Taschenlampe zu verschwenden. Aber wenn jeder Tag dem anderen glich, dann verschwammen sie irgendwann ineinander. Sie wusste nicht einmal mehr, wie lange sie eigentlich schon unterwegs war. Zwei Wochen? Drei? WIe lange war es her, dass sie zuletzt einen Menschen gesehen hatte? Dass sie sich unterhalten hatte, nicht bloß still vorbei geschlichen war?
Sie war sich nicht sicher, ob ihre Stimme ihr noch gehorchen würde, aber sie traute sich auch nicht, sie auszuprobieren. Anfangs hatte sie vor sich hin gesungen, dann gesummt, aber selbst das hatte viel zu laut geklungen. Also lief sie stumm weiter, einen Fuß vor den anderen gesetzt.
Als sie den See gefunden hatte, war sie versucht gewesen, einfach dort zu bleiben, am Ufer, wo das Schilf nicht ganz so dicht wuchs und man sich seinen Weg ins Wasser bahnen konnte. Aber sie wusste, dass die Sicherheit trog. "Wasser überträgt Schall", hatte ihre Großmutter immer gesagt und warnend den Zeigefinger an den Mund gehalten, wenn sie auf einem der Angeltrips angefangen hatte zu plappern. Sie hatte es selbst gemerkt, als die Urlauber mit der großen Yacht Sex hatten und es ihr vorkam, als sei sie direkt daneben. Damals hatte sie noch nicht viel über Sex gewusst, die Geräusche hatten sie erregt und gleichzeitig angewiedert. Das Stöhnen.D as Klatschen. Als das Boot angelegt hatte, hatte sie die beiden beobachtet, wie sie von Bord gekommen waren, und versucht, die Geräusche mit den Menschen in Einklang zu bringen.
Sie schüttelte den Kopf als könne sie die Gedanken damit vertreiben. Sie spürte die Wärme, die sich in ihrer Mitte zusammenzog, während ihre Fantasie passende Bilder lieferte. Die Urlauber. Tom. Die Jungs oben ohne am Strand. Ihr Großvater, wie er der Großmutter über die nackten Schultern strich. Tom neben ihr, auf ihr. Sie kratzte sich, aber das Kribbeln blieb.
Dann trat sie durch eine weitere Wand aus Farn und stockte. Eine kleine Lichtung breitete sich vor ihr aus. Nicht groß genug, um einen Blick auf den blauen Himmel zu erlauben, aber durch all das grün, sah sie plötzlich weiß. Sie machte einen Schritt auf die Lichtung und dann einen weiteren, bis sie zwischen den weißen Blüten stand, die ihr bis zu den Oberschenkeln reichten. Wie kleine Tauben sahen sie aus, strahlend weiß, die Flügel zum Himmel gerichtet. Ihre Urgroßmutter hatte mal eine solche Blume gehabt, deshalb wusste sie, dass es teure Orchideen waren, aber hier wuchsen die seltenen Blumen wild durcheinander, füllten die gesamte Lichtung aus.
Clara blieb stehen, ehe ihre Beine versagten und sie in sich zusammen sackte. Der Rucksack landete achtlos neben ihr, dann lag sie da, ohne einen Gedanken an die Spinnen und Käfer, die sie später von ihrer Kleidung klopfen müsste. Die weißen Blüten erhoben sich über ihr, bildeten einen eigenen Himmel, wie ein Taubenschwarm, der sich aus dem Dickicht erhob.
Für einen Moment erlaubt Clara es sich, einfach nur die Tauben zu sehen, wie sie davon flogen, raus aus dem Grün, immer höher, bis sie die Baumwipfel erreichten und darüber hinaus. Wie sie sich in das blau des Himmels erhoben, ihre Federn strahlend weiß im Licht der Sonne. Die Welt bereitete sich unter ihren Flügeln aus, der Dschungel, die Seen und Flüsse, die Berge, die Städte, die gesamte Insel, das Meer. Und irgendwo dahinter die anderen Kontinente, auf denen vielleicht noch Menschen lebten, die sich unterhielten, die Sex hatten, sich liebten.
Dann war da wieder nur Clara, die im Gras lag, umrahmt von Orchideen.
Allein.