Ein celyvarisches Märchen, das auf der Tradition des Hochzeitstisches beruht; eine Sitte, bei der heiratswillige junge Leute einen gedeckten Tisch ins Freie stellen und dort jeden Vorbeikommenden mit selbstgemachten Speisen bewirten. Die Interessenten können anhand der Speisen und Gespräche bestimmen, ob sie weiterhin interessiert sind.
Mehr zum Hochzeitstisch gibt es hier:
https://belletristica.com/de/books/44187/chapter/302316
Allerdings ist für diese Geschichte nur von Bedeutung, dass die Interessierten für einen Hochzeitstisch nichts bezahlen müssen und die Ausrichtenden auch keine Bezahlung verlangen dürfen.
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Der Hochzeitstisch als Tradition wurde gespendet von Lyzian.
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Es war einmal, vor langer Zeit, in einem zauberhaften Frühling im Städtchen Lyza, da war angekündigt, dass der Prinz des Königreiches ihrem Dorf einen Besuch abstatten werde. Die Bewohner von Lyza waren sehr aufgeregt, dass so hoher Besuch käme. Insbesondere die jungen Leute machten sich große Hoffnungen - denn der Prinz hatte seine Absicht erklärt, eine Gefährtin oder einen Gefährten zu finden. Obwohl er ein stattlicher Bursche war, von anmutiger Gestalt, belesen und geschickt im Degenkampf und Ritt, so war der Prinz noch immer allein. Nicht Wenige waren es also in Lyza, die an diesem Tage einen Hochzeitstisch auf die Straße stellen. So viele Tische waren es, dass die Straßen kaum noch Platz für ein Pferd boten, und überall hing der Duft der erlesensten Speisen in der Luft. Perlender Wein, süße Crêpes, dampfende Spaghetti, erlesene Austern, ...
[An dieser Stelle ergehen sich die Märchenerzähler oft stundenlang in Gerichten und Spezialitäten ihrer Heimat. Falls wir vergessen, dass es ein Märchen aus Celyvar ist. Anm. des Chronisten.]
Wie der Prinz nun ankam, war er überwältigt von den Düften in der Luft. Doch er begann damit, sich an einen Tisch nach dem anderen zu setzen.
Der erste Tisch gehörte einem jungen Bäckersgehilfen, der seine Lehre gerade erst begonnen hatte, jedoch großes Talent besaß. Sein Tisch quoll über von Croissants, warmem Apfelkuchen, Focaccia, frischem Baguette ...
[Ich kürze hier erneut ab. Anm. des Chronisten.]
Der Prinz nahm Platz und probierte von allem. Er sprach freundlich mit dem jungen Mann, und viele glaubten, dass ihre Chancen bereits vertan seien. Doch bevor die Zeit sich dehnen konnte, stand der Prinz auf und sprach: "Mein Freund, du hast mir die köstlichsten Speisen vorgesetzt, Essen, das ich bis ans Ende meines Lebens essen könnte. Besonders gefielen mir deine kleinen Pizzen mit süßen Wildbirnen und würzigem Gorgonzola-Käse, ..."
[Ihr kennt das Spiel. Anm. des Chronisten.]
Wie er so gesprochen hatte, zog der Prinz jedoch zu aller Erstaunen seinen Geldbeutel. "Ich muss weiter, doch für deinen Dienst will ich dir danken. Nimmst du zehn Goldstücke für deine Gastfreundschaft, für die Freude, die mir dieses Mahl bereitete?"
Der junge Bäckersgehilfe zögerte, seine Augen weiteten sich beim Anblick des Goldes. Damit müsste er ein Jahr lang nicht mehr backen! So nickte er geschmeichelt. "Ich danke Euch, mein Prinz."
Lächelnd gab der Prinz ihm das Geld und ging weiter. Als nächstes kam er an den Tisch einer jungen Bauersfrau. Sie hatte nicht viel Geld, doch ihren Tisch hatte sie gedeckt mit den besten Zutaten vom Hof ihres Vaters. Da waren süßer Traubenmost, Weine und Marmeladen, Ziegenkäse mit verschiedensten Zutaten wie Karotten, Pinienkernen, [...].
Sie bewirtete den Prinzen und erzählte ihm, wo jede einzelne Pflanze gewachsen war und wie ihre Familie sie dem Land entnommen hatte, ohne zu ausschweifend zu werden, und der Prinz hörte aufmerksam zu und fragte neugierig nach. Viele Heiratswillige sahen ihre Chancen bereits schwinden, selbst der Bäckersgehilfe, denn mit solchem Herzblut konnte er nicht mithalten. Doch bevor die Zeit sich dehnen konnte, stand der Prinz auf und sprach: "Meine Liebe, dieses Mahl war wie eine Reise durch mein Reich, dieses Land, das wir alle lieben und beleben. Fast ahnte ich den Lauf plätschernder Bäche in der Süße des hellen Weins und die Schatten kleiner Haine in der Schale dunkler Trauben. [...]" Dann ergriff er wieder seinen Geldbeutel und bot dem Bauersmädchen: "Ich muss weiter, doch selbst wenn meine Wahl nicht dich fällt, sollst du für dieses Mahl reich entlohnt werden. Nimmst du zehn Goldstücke für diese Speisen, die aus Heimat gemacht sind?"
Das junge Mädchen zögerte. "Mein Prinz, die Tradition verbietet es, dass ich Geld nehme", sagte sie schließlich.
"Ich bestehe darauf!", sagte der Prinz aber. "Aber recht hast du, zehn Goldstücke können dich nicht für deine Mühen entlohnen, die du diese Köstlichkeiten der Heimat entlocktest! Bitte, nimm einhundert Goldstücke!"
Das Mädchen sah auf das Geld. Damit müsste sein lieber, alter Vater, der Bauer, zehn Jahre nicht mehr arbeiten! So nickte sie entschlossen. "Ich danke Euch, mein Prinz."
So ging es weiter und weiter. Der Prinz aß, lobte die Speisen, die Caprese und Bruschetta, Risotto und Rattatouille, [...], und an jedem Tisch brach er die Tradition und bot den Ausrichtern Gold für ihre Großzügigkeit. Sie alle akzeptierten, manche mit vor Gier glänzenden Augen, denn natürlich verfolgten sie die Ereignisse und wussten, welcher Reichtum ihnen winkte.
Dann aber kam der Prinz an einen ärmlichen Tisch. Auf diesem stand bloß eine Speise, die nicht einmal besonders raffiniert war. Ein armer Waisenjunge, der nichts als die Besitzer des Heims hatte, um ihn zu unterstützen, hatte ein Cassoulet mit weißen Bohnen, Fleisch und Fisch, Kräutern und Speck bereitet. Mit gesenktem Kopf trug er die Scham nach außen, nicht mehr als dieses ärmliche Gericht bieten zu können. Doch der Prinz nahm Platz und aß den Eintopf, und er sprach mit dem jungen Waisenjungen freundlich wie zu jedem sonst. Der Waisenjunge, wenngleich er nicht viel zu bieten hatte, gab doch den besten Gastgeber, unterhielt den Prinzen mit Gesprächen und erzählte, wie er den Fisch und das Kaninchen mit eigenen Händen gefangen hatte, weil er weder Angel noch Fallen besaß, und wie er den Topf für einen Tag harter Arbeit eingetauscht hatte, und auch das Feuerholz selbst beim Holzfäller schlagen musste, weil er nichts besaß als seine Hände voller Schwielen.
Doch ehe die Zeit sich dehnen konnte, stand der Prinz auf und sprach: "Mein Freund, ich habe gekostet von diesen Speisen, die gewürzt sind mit dem Odem ehrlicher Arbeit. Tief hat mich diese Mahlzeit berührt, in ihrer Einfachheit, in ihrer Ehrlichkeit! Als könnte ich im Fisch den Schweiß jener tapferen Männer des einfachsten Volkes schmecken, die auf ihren Rücken mein Reich tragen und im Kaninchen die Liebe junger Frauen zu diesem Land. [...] Du solltest dich nicht schämen, weil deine Speisen wenig sind, denn ich sehe die Arbeit, die dahintersteckte, und sie steht nicht hinter der anderer hier zurück! Bitte, mein Freund, akzeptiere zehn Goldmünzen als Lohn. Nicht länger sollst du auf einfachste Dinge angewiesen sein!"
"Nein, mein Prinz", sagte der Waisenjunge jedoch. "Ihr müsst mir nichts zahlen."
"Dann sollst du noch zufriedener sein! Was schadet etwas Gold? Mein Freund, nimm einhundert Münzen!"
"Mein Prinz, ich danke für Eure Großzügigkeit, doch ich kann sie nicht annehmen."
Mehr und mehr bot der Prinz, Dinge, die noch keiner im Dorf vernommen hatte. Eintausend Goldstücke! Einhundert reinrassige Pferde! Eine prächtige Burg! Gar eine ganze Grafschaft! Doch der Waisenjunge lehnte ab, er beharrte darauf, er könne die Bezahlung nicht annehmen.
Da lächelte der Prinz mit einem Mal, steckte den Goldbeutel fort und verkündete: "Du willst nichts nehmen, was ich dir biete. So soll dir alles gehören, was ich habe. Ganz Celyvar sein Dein, der du die Tradition so in Ehren hältst - und meine Hand!"
So war die Entscheidung gefallen. Der Waisenjunge wurde zum Prinzgemahl und er würde fortan nicht einen Tag mehr Hunger leiden. In Lyza jedoch beschenkte der Prinz auch alle anderen Bewohner reich, die seinetwillen ein Festmahl hergerichtet hatten. Und bevor all die Speisen zu Schaden kämen, gingen die Leute umher zu den anderen Ausrichtern; und so wurden noch viele Hochzeiten an diesem Tag beschlossen und weitere erblühten mit der Zeit.
Der Prinz und sein bescheidener Gemahl jedoch kehrten Heim zum König und schworen, wenn es an der Zeit wäre, Celyvar im Einklang mit den alten Gesetzen zu leiten. Der Prinz würde ein guter Herrscher sein und sein Gemahl ein weiser Anführer.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.