Nach dem Prompt „Bären-Baumkänguru [Tierische Geschichten mit Zeitsprüngen]“ der Gruppe „Crikey!“
Beitrag zum Bärness-Tag 2024.
------------------------------------------
Die Traumzeit ist jetzt. Alles, was geschieht, in Vergangenheit oder Zukunft, ist dort jetzt. Nur sie ist wahr, die wache Welt dagegen ein langer Traum, in den die Seelen für eine Weile eintauchen wie Fische auf der Jagd nach Fliegen aus dem Meer rings um Kawaluuga springen. Doch nur die Traumzeit ist ewig.
Auf Kawaluuga gibt es einen alten Baum, der nicht nur im langen Traum, sondern auch in der Traumzeit existiert. Im wachen Traum ist er tot, seine Rinde von der Sonne gebleicht und glatt wie Knochen. Spitze Zweige ohne Laub recken sich in die salzige Brise.
In der Traumzeit ist dies der Ort, wo die Sterne nicht leuchten. Dunkler vor dem dunklen Himmel sind die Äste des Baumes ein Gewirr aus Pfaden. Dies ist der Ort, wo das Totemtier Mula lebt, das die Gelehrten als Bären-Baumkänguru kennen. Es ist ein heiliger Ort, eine Pforte zur Traumwelt, aber nur wenige Feste gibt es hier. Gelehrte, die über das große Wasser kamen, fragten, ob Mula weniger wichtig sei als andere Totemtiere. Und die Antwort ist diese:
Die Traumzeit ist jetzt. Alles, was geschieht, ob vergangen oder noch nicht gewesen, ist jetzt. Schließt man die Augen und erwacht in die Traumzeit, so sieht man, dass die Ebene vor Mulas Baum nicht verlassen ist.
Jene, die verzweifelt sind, finden ihren Weg hierher. Mag es ein schwankender Krieger sein, dem Blut aus einer frischen Wunde rinnt, eine gramgebeugte Mutter oder ein junger Mensch noch ohne Totemtier und mit gebrochenem Herzen. Die Dunkelheit vor dem Baum zieht sie alle an. Mit dem Herzen der Verlorenen finden sie den Ort, wo das Licht der Sterne den Boden nicht erreicht. Hier sinken sie nieder oder senken bloß den Kopf. Und obwohl in der Traumzeit jetzt ist, sind sie gefangen im langen Traum und sehen einander nicht. Alleine stehen sie vor dem Baum mit seiner bleichen Rinde, während die Sonne sinkt. So viele Wesen, so viele Farben, die unter seinen toten Zweigen stehen, die im Wind leise rascheln.
"Ich konnte sie nicht beschützen."
"Ich liebe sie so, doch sie erwidert es nicht."
"Mula, ich fürchte mich. Bitte sprich zu mir!"
Ein Lied aus klagenden Zeilen, das in der Traumzeit erklingt. In der Ferne mag ein Dorf brennen oder das Leben wie immer laufen. Ihre Tränen mögen um Tote und Sterbende oder um ihrer selbst fallen, um unermesslichen Verlust oder scheinbare Nichtigkeiten. Doch die Melodie ist dieselbe.
"Ich habe es verloren. Ich kann es einfach nicht wiederfinden! Ich habe schon überall gesucht."
"Ich habe gewonnen, ja, aber zu welchem Preis? Jetzt bin ich einsamer als je zuvor in meinem Leben."
"Ich wusste, dass sie älter wird, aber ich dachte, mir bleibt mehr Zeit. Was soll ich denn jetzt ohne sie machen? Wie soll ich leben?"
"Ich finde einfach keine Ruhe mehr. Der Schlaf will nicht mehr zu mir kommen."
"Es gibt so viel zu tun, so viele, die mich brauchen, aber ich ... ich habe keine Kraft mehr."
So viele Gesichter, so viele Farben. Kinder der verschiedensten Totemtiere: Ob Schlange, Vogel oder Fisch. Sogar Kängurus finden sich unter den Zweigen von Mulas Baum ein, sogar jene mit ihrem Totem. Und sie alle tragen den gleichen Blick, wenn sie schließlich zum Baum aufsehen.
Vielleicht haben sie von Mula gehört. Vielleicht ist es nur ein Instinkt. Vielleicht haben sie die Dunkelheit gesucht. Doch sie alle spähen in die Zweige, die dunkel vor dem Himmel zittern. Suchen nach einem Zeichen, einer Antwort. Suchen nach dem Baumkänguru mit dem hellen Kragen und dem Gesicht eines Bären, während sich eine Schlinge um ihren Hals zu schließen scheint.
"Bitte, antworte mir! Gib mir ein Zeichen, wenn du existierst! Bitte sag mir, dass es stimmt, dass es Götter und die Traumzeit und einen großen Plan gibt! Bitte ..."
Doch ihnen allen antwortet nur das trockene Rascheln der Zweige. Ob sie mit flehender Stimme oder mit Zorn rufen, ob sie betteln oder verlangen, sie erhalten keine Antwort. Mula schweigt zu ihrem Schicksal. Mag Blut auch fließen, mag eine Katastrophe nahen, es folgt kein Zeichen des Totems.
Doch dann kommen Schritte. Füße, die in allen Zeiten auf die gleichen Stellen fallen. Leise, flüsternd. Verschiedene Wesen, verschiedene Gesichter, doch verschwimmen sie in der Traumzeit zu einem Wesen.
Sie halten am Rand des Platzes, wo die Zweige des Baumes gerade so hinreichen, und wer immer unter den Ästen steht oder kniet, bemerkt sie.
"Du!"
"Geh weg."
"Wer seid Ihr?"
"Mit dir will ich jetzt nicht reden."
"Lass mich alleine!"
"Du?!"
Tausende Worte, tausende Gründe. Doch wer auch immer gekommen ist, antwortet immer gleich.
"Ich bin hier. Ich bin für dich da."
Eine Hand auf einer Schulter. Ein mitfühlender Blick. Arme umschließen die Person in der Finsternis.
Was folgt, ist immer anders, und doch gleich. Ob tosende Schreie oder unterdrücktes Schluchzen, ob lautes Weinen oder ein schier unendlicher Strom aus Klagen. Vielleicht erhalten sie Antwort von jenem, der ihnen gefolgt ist. Vielleicht erhalten sie diese nicht. Doch sind diese schweigenden, leisen Bären jene Antwort, auf sie sie gehofft haben. Sie sind es, die das Totem von Mula haben, die im Zeichen dieses Baumkängurus leben. Wenn jemand seinen Weg in die Dunkelheit findet, wo keine Sterne leuchten, so sind sie ebenfalls da.
Irgendwann, oder jetzt, ersterben Worte und Schluchzen. Die Kinder Mulas halten die Verzweifelten, bis sie Ruhe finden und nach oben sehen; bis sie durch die Tränen hindurch die Sterne sehen und den violetten Himmel der Nacht, und erkennen, dass es an diesem Ort nie dunkel war. Nur ihren eigenen Schatten haben sie gesehen, nun erblicken sie das Licht und davor die hellen, weißen Zweige.
Manch ein Krieger starb vor diesem Baum, den Blick auf die Sterne gerichtet. Und manch ein Kind ward hier geboren. Manche Trauernden sitzen stundenlang unter den Ästen, und manche finden hier endlich Schlaf. Sie alle bringen die Kinder Mulas schließlich zurück, aus der Traumzeit hinaus in den langen Schlaf. Antworten schenken sie nur selten, das ist nicht ihre Macht. Doch die Tränen lassen sie zurück.
Es gibt viele Totems in unserer Welt. Manche sind Anführer und andere mächtige Krieger. Es gibt schlaue Totems und Erfinder, die die Völker voranbringen und neue Wege bereiten. Es gibt Forscher und Abenteurer, genau wie Eltern und Beschützer. Es gibt Magier und Jäger, die uns ernähren, Hüttenbauer, Waffenmacher und Medizinmänner. Und es gibt jene, die uns zum Lachen bringen oder Lieder anstimmen. Jene stillen Totems wie Mulas Kinder, die dann da sind, wenn die Sterne dunkel sind. Die schweigenden Totemkinder, die nichts tun, außer da zu sein.
So viele Totems kennt unsere Welt - und nicht eines ist schwächer als die anderen.