Blubberblasen tauchten vor Mamoru aus dem Wasser auf.
Mit dem halben Gesicht unter Wasser, blubberte er vor sich hin und beobachtete aus dem Augenwinkel Tanja, die an der Bar stand und sich einen Erdbeercocktail bestellte.
Natürlich Alkoholfrei.
Tanjas Eltern hatten ihr diese Garten-Cocktail-Pool-Party quasi zu ihrem 16. Geburtstag versprochen und alle ihre Klassenkameraden waren eingeladen.
Also auch Mamoru, obwohl er mit Tanja bisher kaum mehr als ein paar Worte zur Begrüßung gewechselt hatte.
Der 16-Jährige Junge mit den viel zu dürren und viel zu langen Armen und Beinen traute sich nicht aus dem Wasser zu steigen, doch langsam wurde ihm die Hitze des stark geheizten Whirlpools zu viel.
Oh Gott, sie kam direkt auf ihn zu. Bloß schnell weg hier.
Mit einem Wusch sprang er aus dem Minibecken, in das gerade mal 5 Leute passten, und war in Richtung Kalle verschwunden.
Den kannte er wenigstens etwas, weil er sein Partner im Chemielabor war.
Aber die Braunhaarige verfolgte ihn selbst hier hin und tippte ihm von hinten auf die Schulter.
Leicht genervt drehte sich Mamoru zu ihr um.
"Hi!" Sagte Tanja, die sich von seiner sauertöpfischen Miene nicht beirren ließ.
"Hi."
"Mamoru. Richtig?"
"Hm." Was wollte die bloß von ihm?
Mamoru war sich ziemlich sicher, dass er ihr keinerlei Grund gegeben hatte, anzunehmen, er wäre an ihr interessiert. War er nämlich nicht.
'Warum hast du dann zu ihr rüber gestarrt?'
Fragte ihn diese fiese kleine Stimme in seinem Kopf, die ihm manchmal so richtig auf die Nerven gehen konnte.
Er ignorierte sie.
Genauso wie er Tanja praktisch ignorierte, die ihn mit einem Schwall Wörtern zuquasselte, von denen er die Hälfte gar nicht wahrnahm.
"Weißt du," unterbrach er sie irgendwann einfach.
"Ich bin mir sicher, das ist alles wahnsinnig wichtig und interessant.
Nur leider nicht für mich."
Kalle, der keine zwei Meter von ihnen entfernt stand, glotzte seinen Klassenkameraden mit aufgerissenen Augen und offenstehendem Mund an.
Tanja lief rot an und aus ihren Augenwinkeln traten Tränen hervor.
Sie sah aus wie jemand, dem ein anderer mit voller Absicht auf den Fuß getreten war.
Einen Moment blieb sie in dieser Erstarrung, bevor sie sich schweigend und tief durchatmend umdrehte und zu Perry lief.
Perry und Tanja hingen in der Schule immer zusammen und erzählten sich alles.
In Mamorus Kopf formten sich Geschichten aus, die sie sich über ihn erzählten:
Wie schlacksig er sei.
Und wie sonderbar, weil er nie mit irgendjemandem rede.
Aber trotzdem nie unhöflich oder gemein.
Na gut. Letzteres würden sie jetzt wohl nicht mehr über ihn sagen.
Was solls.
"Sag mal, hast du'n Rad ab?"
Kalle schwenkte seine gewaltige, fleischige Faust vor Mamorus Gesicht, als wolle er prüfen, ob dieser noch bei Bewusstsein war.
"Da kommt ein Mädchen aus unserer Klasse und will sich mit dir unterhalten und du benimmst dich wie der letzte Arsch! Geht's noch?
Ich hoffe, du entschuldigst dich bei ihr. Und zwar ASAP.
Sonst kannste dir für Chemie wen anderst suchen."
Kopfschüttelnd und schnaufend stapfte der übergewichtige Junge zum Buffet.
'Anscheinend muss er jetzt erstmal Frustfressen.' Dachte Mamoru.
Was war eigentlich los?
Seit wann interessierte sich jemand für ihn?
Er tat doch sein Bestes um möglichst unsichtbar zu sein.
Er wollte doch nur sein Ruhe haben.
Nicht jedem x-beliebigen Deppen erzählen müssen, wie er zu der Narbe in seinem Gesicht gekommen war.
Nicht bei jedem Wort aufpassen müssen, sich nicht zu verraten.
Nicht jeden Augenblick der Versuchung widerstehen müssen, die nächstbeste Pflanze wachsen zu lassen und in ein riesiges Iglu zu verwandeln und sich darin zu verkriechen.
Er bemerkte die flüsternden Stimmen um sich herum.
Alle starrten ihn an.
"Was? Was ist? Hä? Lasst mich doch einfach in Ruhe, verdammt noch mal!"
Im Vorbeigehen schnappte sich der Schwarzhaarige seine Klamotten und verließ ohne ein weiteres Wort den Garten.
In der Hofeinfahrt vorm Haus setzte er sich auf den Bordstein, zog sein Handy aus der Hosentasche und wollte gerade zu Hause anrufen, als ihm schon wieder jemand auf die Schulter tippte.
"Tanja?"
Seine eigene Stimme kam ihm viel zu hoch vor.
Wieso war sie ihm gefolgt? War sie nicht sauer auf ihn?
Die Braunhaarige setzte sich neben ihn hin, zog die Beine an und legte das Kinn auf die Knie.
"Ich weiß das mit den Pflanzen."
Mamoru fühlte sich, als hätte er das Atmen verlernt.
Er zog gleichzeitig Luft ein und wollte sie auspusten, was in einem anhaltenden Hustenanfall endete.
"Was weißt du?" Krächzte er.
"Alles." Antwortete Tanja schlicht.
"Dass du und deine Familie diese Kräfte haben.
Dass du deswegen versuchst nicht aufzufallen und mit niemandem befreundet bist.
Dass du Angst hast, jemand könnte erfahren, warum du diese Narbe hast.
Und dass du dir selber nicht eingestehen willst, dass du mich interessant findest."
Die Braunhaarige hatte während sie sprach die Augen die ganze Zeit auf den Boden gerichtet.
Mit einem kleinen Stein kratzte sie auf dem Asphalt herum, zog weiße Linien, die Formen bildeten wie das Haus-vom-Nikolaus oder den 25-Hund.
Es dauerte einen Moment, bis Mamoru realisierte, dass er gerade daran gedacht hatte genau diese beiden Formen auf die Straße zu kritzeln, kurz bevor Tanja aufgetaucht war.
"Du kannst Gedanken lesen." Es war eine Feststellung, keine Frage.
"Ja."
"Seit wann?"
"Keine Ahnung. Es fing einfach irgenwann an."
"Hör mal, ich..."
"Schon gut. Ich weiß ja, dass dus nicht böse gemeint hast."
Tanja stand auf und klopfte ihre Hose sauber.
"Lass uns irgendwann mal in Ruhe quatschen, ok? Wir sehen uns Montag in der Schule."
Sie ging zurück in den Garten, ohne seine Antwort abzuwarten.
Sie brauchte sie nicht zu hören.
Sie wusste, dass er unendlich froh war, endlich jemanden zu haben, mit dem er offen reden konnte, ohne sich verstellen zu müssen.
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Gehört thematisch zu dieser Geschichte:
(Irgendwann schaff ich es mal, alle zusammen gehörigen Geschichten ordentlich zusammen zu fassen. ^^`)