"Besuch aus der Vergangenheit"
15.01.2020
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Der kühle Sommerwind zerzauste der Person das Haar, als sie fast beschwingt das Tor aufschob und mit einem feinen Lächeln den Gottesacker betrat. Die Rosen und die Jasminbüsche standen in voller Blüte und die Wärme, mit der das Sonnenlicht die Friedhofserde über den Tag hinweg aufgeheizt hatte, drang jetzt von unten zu ihr empor wie bei einer Heizung. Die Person genoss den Wind und den schweren Duft um sie herum. Erde, aufgelockert und frisch gegraben, und die üppigen und gepflegten Büsche.
Mit der Tasche unter dem Arm schritt sie geradewegs auf den Ort zu, an den sie wollte. Ein verborgener, im hinteren, alten Teil des Friedhofes, wo sich niemand hin verirrte, weil niemand mehr lebte, der die Bestatteten kennen könnte. Ein Lächeln hatte sich auf dem Gesicht breit gemacht und verbarg die eingefallenen Wangen, die Schritte des zierlich und ausgemergelt wirkenden Körpers waren auf dem Pfad aus Kies kaum zu hören.
»Ich konnte es kaum erwarten, dich wiederzusehen«, wisperte sie mit papierner Stimme und kniete sich vor einen Grabstein, der wirklich alt war. Er war noch aus nacktem Stein gehauen worden, nicht aus Marmor, wie es heute üblich war.
Rasch, mit zittrigen Fingern, aber routiniert und umsichtig, stellte die Person einige Kerzen rund um das Grab auf und breitete ein Tuch auf der Erde aus. Es war ihr anzumerken, wie ungeduldig sie war, denn das Entzünden der Dochte war ein mühseliges Unterfangen, da die Streichhölzer immer wieder erloschen. Die Person wünschte sich, ein Feuerzeug dabeizuhaben, doch dann, befürchtete sie, würde der Zauber vielleicht nicht funktionieren.
Mit geschlossenen Augen kniete sie schließlich da und vollführte all die Schritte, die nötig waren, wie schon die vielen Male zuvor. In der bronzenen Schüssel, die sie mitgebracht hatte, brannten einige Kräuter und zum Ablöschen gab die Person wie immer ein paar Tropfen ihres eigenen Blutes dazu. Das Opfer. Ein Ziehen fuhr durch den strichdünnen Leib und die Person keuchte.
»Du musst damit aufhören«, wisperte eine Stimme hinter ihr, fein wie der Wind und direkt an ihrem Ohr. »Hörst du, Hugo? Du musst aufhören.«
Die Person, Hugo, hob den Kopf und lächelte.
»Nur noch ein letztes Mal.«
»Das hast du die letzten Male auch schon gesagt«, fistelte die Stimme, die zu einer transparenten Erscheinung gehörte, die über dem Grabstein schwebte. Ein junger Bursche, kaum den Kinderschuhen entwachsen. Die verwaschene Inschrift nannte ihn Eustace, seinen Nachnamen konnte man nicht mehr erkennen. Auch die Jahreszahl war verwittert, doch sie begann mit einer Siebzehn. Hugo hatte nur etwas ausprobieren wollen, einen merkwürdigen Zauber aus einem alten Buch vom Dachboden, das seiner Großmutter gehört hatte. Er hatte nicht daran geglaubt, dass es wirklich funktionierte, doch als Eustace auftauchte, hatten sie beide gleich diese Verbindung gespürt. Und Hugo die Tatsache beweint, dass sie einander niemals würden berühren können, solange die Schranke zwischen Leben und Tod sie trennte.
»Wenn du mich weiter herbeirufst, wirst du sterben. Schau’ dich doch an. Du bist mehr Skelett als Mensch. Dieser Zauber frisst dein Leben.«
»Das ist mir egal. Wenn ich nur diese Zeit mit dir habe.«
»Warum nur willst du alles herschenken, dein Leben, für mich?«
»Weißt du das denn nicht?«
Die transparente Geistererscheinung lächelte leicht und Hugo richtete sich auf. Matt und schwankend lehnte er sich an den steinernen Grabstein und seufzte schwer.
»Es ist ganz egal. Hier hält mich nichts, also kann ich gehen. Und«, er krampfte leicht, doch sein Gesicht zeigte kein Zeichen von Furcht, »ich glaube ohnehin nicht, dass es noch eine weitere Beschwörung geben wird. Ich bin müde, Eustace. Wirst du warten, bis ich bei dir bin?«
»Natürlich«, wisperte der Geist und streckte die Hand nach der Hugos aus. Sie konnten einander nicht spüren, nurmehr ein feiner Hauch von Kälte war da und strich über die Haut des sterbenden Jungen.
»Ich werde warten. Und solange werde ich dein Verscheiden beweinen.«