Er hatte sie den ganzen Tag gesucht. Und nun saß, nein viel eher thronte, sie auf dem höchsten Gipfel der Bücher, die sie zu einem Berg aufgetürmt hatte.
Nein, kein Berg, dachte Thaleos, eine Bergkette. Das traf es viel besser.
„Hier bist du, Indra!“ Sie reagierte nicht. Kein Nicken, keine Hand, die sie zum Gruß erhob. Da war nicht einmal ein kurzes Zucken in ihrer Haltung, das ihm verriet, dass sie seine Worte wahrgenommen hatte.
Thaleos räusperte sich. „Hallo, Indra.“ Auch dieses Mal kam nichts von ihr zurück.
Indra stieß das Buch von sich und krallte nach einem anderen. Das Buch stürzte, die Seiten entblößt, einen Berghang hinab und die Pumphosen, die Indra trug, sorgten dafür, dass weitere fielen. Wie eine kleine Lawine rauschten sie zu Boden, bis sie laut lärmend und ineinander und übereinander vor seinen Füßen zum Erliegen kamen.
Wortfetzen sahen ihm aus den aufgerissenen Seiten entgegen. Buchdeckel waren schreiend weit geöffnet, als könnten sie es nicht fassen, dass ausgerechnet eine Buchmagierin ihnen diesen Frevel antun könnte.
Ein Einzelnes war vollkommen zerstört, Seiten verknickt und halb rausgerissen, Sätze umkreist oder gar durchgestrichen. Es wäre kaum noch zu retten, das erkannte selbst Thaleos mit seinem mangelndem Wissen.
„Indra!“, wiederholte er, dieses Mal deutlich lauter. Doch wie zuvor, schien es auch dieses Mal, als hörte ihn die Frau nicht einmal. Stattdessen steckte sie ihre Nase in ein weiteres Buch, nur um auch dieses Augenblicke später mit einem Brummen einen Abhang hinunterzustürzen.
Thaleos schüttelte den Kopf. Zum Henker, was tat sie hier eigentlich?! So frenetisch hatte er sie das letzte Mal Regale durchwühlen sehen, kurz bevor sie zu ihrer Reise aufgebrochen waren. Und das lag bereits Jahre zurück!
„Indra!“ Die Schatten um ihn herum vibrierten. Selbst Thaleos erschreckte sich kurz.
Aber immerhin sah Indra endlich auf.
„Thaleos“, grüßte sie. Ein Lächeln lag auf ihren Zügen und erst jetzt, wo sie zu ihm blickte, sah er, wie wirr ihr Haar, ja ihre ganze Erscheinung wirkte.
Wie lange sitzt sie hier schon so? Thaleos wusste es nicht und irgendwie war es ihm, als wolle er darauf auch gar keine Antwort erhalten. Er war sich sicher, dass es bereits viel zu lang war.
„Was machst du hier?“ Er nickte zu den Buchbergen und berührte mit der Spitze seines rechten Stiefels vorsichtig die gefallenen Bücher.
Indra blinzelte ihm verwirrt entgegen und legte den Kopf schief. „Ich suche ein passendes Buch.“
„Für einen Zauber?“ Es war mehr eine Feststellung, denn einer Frage. Trotzdem wollte er sie stellen. Nur um sicher zu gehen.
Der verwirrte Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde intensiver, und während sie mit der linken Hand bereits wieder nach einem neuen Exemplar tastete, antwortete sie: „Natürlich wofür auch sonst?“
Wofür auch sonst..., wiederholte Thaleos in Gedanken. Ein leises Seufzen entschlüpfte seinen Lippen. Manchmal irritierte Indra ihn noch immer über alle Maßen. Auch nachdem – oder gerade weil? – sie bereits so viele Jahre miteinander verbracht hatten.
„Und du hast wirklich noch kein passendes gefunden?“ Erneut deutete er auf die Berge, die sie aufgetürmt hatte und warf den leeren Regalwänden einen vielsagenden Blick zu. Sie hatten die Wände der großen Halle bis hinauf zur Decke gefüllt. Nun waren die meisten leer und jene, in denen noch Bücher lagen, wirkten seltsam entrückt.
Indra schüttelte den Kopf. Aber sie war nicht ganz bei ihm, denn ihre Augen huschten nach wie vor über die Seiten zwischen ihren Fingern.
„Wonach genau suchst du?“ Am liebsten hätte er sie in diesem Chaos alleine gelassen. Himmel, alles in ihm schrie danach, einfach wieder rückwärts aus dieser Halle herauszustolpern und so zu tun, als wäre nichts gewesen.
Aber Thaleos wusste nur zu gut, dass es Ärger geben würde, wenn jemand anderes Indra so auffände. Diese Bücher waren kostbar und je schneller sie gefunden hatten, wonach auch immer Indra suchte, umso schneller könnten sie die Spuren beseitigen.
Und dann wird hoffentlich niemand etwas merken. Thaleos Blick glitt zu einzelnen Seiten, die zwischen Buchdeckeln hervorlugten. Herausgerissen. Es würde nicht einfach werden.
„Ich brauche eine Geschichte, die von einer magischen Verbindung erzählt. Im besten Fall zwischen grundsätzlich unterschiedlichen Dingen, die sich zu einem Großen und Ganzen mischen.“ Sie drehte das Buch in ihren Händen und hielt es eine Armlänge von ihren Oberkörper entfernt. Thaleos wusste beim besten Willen nicht, was sie damit erreichen wollte. Dennoch, es schien geklappt zu haben. Indras Züge hellten sich auf; und dann legte sie auch dieses Buch achtlos zur Seite.
„Das ist...“ „Speziell, ich weiß.“
Verdammt speziell. Kein Wunder, dass sie bisher noch nichts gefunden hatte.
Thaleos griff wahllos nach einem Buch, das am Fuß des Bücherberges vor ihm lag. Er blätterte es durch, unschlüssig, wie er überhaupt etwas herausfinden sollte. Ob er lesen musste?
Es schüttelte ihn. So sehr Indra Bücher und das Lesen selbst liebte, er hasste es, und das einzig positive, was er damit je in Verbindung gebracht hatte... Ja, das war Indras Anblick, wann immer sie zauberte oder lächelnd die Nase in ein Buch steckte.
Abgesehen von jetzt. Jetzt wirkte es eher frenetisch auf ihn, wie sie nach Werken angelte, ihre Nase in Geschichten steckte und in Bruchteilen von Sekunden sich doch dagegen entschied und es achtlos fallen ließ.
Nur ihr wirres Aussehen, die kurzen Haare, die ihr zu Berge standen und die Unterlippe, die vom langen darauf Herumkauen angeschwollen zu sein schien... Das gefiel ihm irgendwie.
Eilig schüttelte Thaleos den Kopf und räusperte sich leise, um die Gedanken aus seinem Kopf zu verscheuchen.
„Aber ich muss sie nicht lesen?“, fragte er stattdessen.
„Nein“, antwortete Indra ohne von den Seiten aufzublicken, die durch ihre Finger glitten. Die Worte begleitete ein Schmunzeln. „Ich überfliege auch nur.“
„Überfliegen...“, wiederholte er leise. Das machte es nicht besser. Lesen musste er da trotzdem.
„Du musst mir aber auch nicht helfen, Thaleos.“
„Ich möchte aber“
Sie lächelte ihm entgegen, warm und weich und kurz glitzerte etwas in ihren Augen auf.
„Und so schwer kann es ja wohl nicht sein, so ein Buch zu finden!“
Sein Optimismus war gewagt gewesen. Das hatte Thaleos vom ersten Moment an gewusst. Realisiert hatte er es hingegen erst, als er selbst sich auf dem Gipfel eines Buchberges wiedergefunden hatte und einem Buch dabei zusah, wie es einer Lawine gleich ins Tal stürzte.
Was hatte er sich hier nur eingebrockt? Es musste doch eine Möglichkeit geben, diese verdammte Suche zu vereinfachen!
Ein Suchzauber!, durchfuhr es ihn. Aber auch dafür brauchten sie erst das passende Buch, das einen solchen thematisierte. Und gewonnen hätten sie damit nichts, eine Suche durch eine andere zu ersetzen. Einen anderen Weg, dieses Unterfangen abzukürzen, bedurften sie dennoch.
Ich könnte mit den Schatten suchen. Thaleos kratzte sich am Kinn und schloss nachdenklich die Augen. Das würde ihm auch nichts bringen. Schatten konnten nicht lesen und sie zu rufen, wäre nichts anderes, als Kraftverschwendung.
Aber was wäre...! Augenblicklich saß Thaleos aufrecht auf seinem Gipfel und das Buch, das eben noch auf seinem Schoß lag, rutschte davon.
„Indra?“
„Hast du etwas gefunden?“ Ihre Stimme wirkte aufgeregt und der angestrengte Zug um ihren Mundwinkel begann zu weichen, bis er den Kopf schüttelte. „Oh...“
„Warum schreibst du dir nicht einfach diese Geschichte?“
Die Lösung war so einfach, dass es ihn fast ärgerte, nicht schon früher darauf gekommen zu sein. Bücher waren doch auch nichts anderes, als selbstverfasste Texte!
Und Thaleos konnte sich nun wirklich nicht vorstellen, dass es in der Buchmagie einen gravierenden Unterschied zwischen gestandenen Bänden und eigenen Texten geben sollte.
Indra zog die Schultern in die Höhe, bis sie ihr Kinn berührten. Ihre Wangen waren flammend rot geworden und je länger er in ihre Richtung sah, umso mehr verschwand sie hinter einem Buchdeckel. Dann sah er nur noch ihre feuerroten Ohren und nahm ein leises Murmeln wahr.
Thaleos war verwirrt. Vielleicht sogar mehr als das und es dauerte einige Momente, in denen er nur starren konnte, ehe er sich wieder gefangen hatte.
„Was?“, sie reagierte nicht, stattdessen begannen die Seiten zu rascheln und dort, wo ihr Kopf sein musste, tanzten Lettern des Titels auf und ab, „Indra, ich versteh dich nicht.“
„Ich kann nicht schreiben“, presste sie leise hervor.
Thaleos zuckte überrascht zusammen und trat mit seinem Knie einen Stapel neben sich um. Mit einem lauten Krachen ging er zu Boden und jetzt, in dieser peinlich berührten Stille zwischen ihnen, erklang es wie ein lauter Schrei.
Und das als Buchmagier?!
„Bitte?“, entfuhr es ihm. Indra zuckte zusammen. „Ich kann nicht schreiben.“
Unfassbar. Anders konnte Thaleos es nicht beschreiben. Aber wenn das der einzige Hinderungsgrund war...
„Dann werde ich es schreiben. Und“, fügte er an, dieses Mal deutlich weicher, „wenn du willst bringe ich es dir auch bei.“