Die richtige Linienführung für dieses Objekt zu finden, fiel ihr alles andere als leicht, obwohl Kila die letzten Jahre nichts anderes als das, getan hatte: Zeichnen, was sich vor ihrer Nase befand.
Ihr Notizbuch war gefüllt mit Bildern, Seite um Seite, von denen sie hoffte, sie eines fernen Tages verkaufen zu können, sobald sie ihre Reise beendet hatte.
Und dieses hier schmiegte sich perfekt in ihre Sammlung! Ein Kristall, hier inmitten von Staub und Dreck. Völlig ungeschliffen erhob er sich aus den Steinen, wie ein Berg mit hohen Gipfeln und warf ein Licht auf den sandigen Boden, das Kila so in dieser Form noch nie gesehen hatte.
Wie ein glänzendes Juwel! Es war faszinierend. So überaus faszinierend, dass sie einfach nicht anders gekonnt hatte, als ihre einsame Reise hier zu unterbrechen, um das Farben- und Formenspiel des Kristalls in einem ihrer Bilder einzufangen. Bestimmt könnte sie damit gut verdienen, echte Kristalle waren selten geworden und einer dieser Größe!
Das einzige, was Kila mehr als das in ihren Bann schlug, war die Tatsache, dass es immer etwas neues zu entdecken gab zwischen all den Gipfeln und Tälern des Bergkristalls. Silhouetten von Steinen, eingeschlossene Kiesel, ein neuerlicher Farbschimmer... Und waren das Türme, die wie eine ferne Idee im Hintergrund glänzten?
Kila schüttelte den Kopf und rieb sich über die Nasenwurzel.
Weniger starren und mehr zeichnen! Es brachte ihr nichts, sich in diesem Motiv zu verlieren. Letztendlich würde es ohnehin nur eines von vielen werden, das hoffentlich ihren Münzbeutel füllte.
Und vielleicht, ganz vielleicht irgendwann dafür sorgte, dass sie von ihren Bildern leben könnte.
„Ich hab gehört“, drang eine fremde Stimme an ihre Ohren, und kurz darauf verdunkelte ein Schatten ihren Zeichenblock, „dass das ein Überbleibsel diverser gefährlicher Magieexperimente sein soll.“
Kila zog eine Augenbraue in die Höhe und schüttelte den Kopf.
Unsinn! Magie war sicher. Das war sie immer gewesen! Die Großmeister der Magiegilden hatten es bewiesen und nicht umsonst gaben sie ihr wertvolles Wissen nur an Adepten weiter, die würdig waren und mit der Macht umzugehen wussten.
Experimente? Kila schüttelte abermals den Kopf. Nein, so etwas hatte dabei keinen Platz. Dennoch, irgendwie konnte sie nicht verhindern, einen prüfenden Blick auf den Kristall zu werfen. Erneut fiel ihr die Spiegelung auf, die sie so sehr an hohe Turmbauten erinnerten.
Da ist nichts, Kila! Auf diesem Kristall brach sich so viel, dass das, was sie dort sah, nichts anderes war, als die verzerrte Spiegelung der Steine rings um sie herum.
Dieser Fremde wollte ihr bestimmt nur ein Märchen aufbinden. Am besten ignorierte sie ihn!
Doch als sie sich wieder ihrer Zeichnung zuwenden wollte, musste Kila feststellen, dass der hohe Schatten noch immer ihr Motiv verschluckte. Und so konnte sie nun wirklich nicht weitermachen, wollte sie das Licht, die Farben und Formen allumfänglich einfangen. Sie räusperte sich kurz und klopfte mit dem Stift gegen das Papier. Als der Fremde trotzdem nicht einmal Anstalten machte, einen Schritt zu weichen, verschränkte sie ihre Arme über ihren Utensilien.
„So?“, erwiderte sie und sah halb über ihre Schulter zurück.
Ein Lächeln sah ihr entgegen, eingerahmt von wilden braunen Haaren, zwischen denen blaue Augen funkelten.
Er sah verwegen aus. Na das passt zu seinen Märchen!
Abwenden konnte Kila sich trotzdem nicht.
„Ja“, er nickte dem Kristall entgegen und fuhr mit einem Finger die Umrisse in der Luft nach. „Tatsächlich munkelt man dieser Orts, dass der Kristall einmal etwas anderes gewesen sein soll.“
„Etwas anderes?“, fragte Kila. Ihr Blick löste sich von seinem Gesicht und folgte den Bewegungen, die sein Finger unentwegt vollführte. Noch immer.
Komischer Kerl. Aber sie war neugierig. Neugierig genug, ihm zuzuhören, so seltsam er auch erscheinen mochte.
Außerdem hatte sie gehört, dass sich Bilder durchaus gut mit einer passenden Hintergrundgeschichte präsentieren und verkaufen ließen. Und wer weiß, vielleicht hatte sie mit dieser ja Glück?
„Siehst du die runde Form?“
„Rund? Es sieht er aus, wie ein kristallisierter Berg, mit Tälern, Gipfeln und Pfaden.“
Der Fremde schmunzelte. „Ja, aber siehst du hinter dieser Form etwas Rundes?“
Kila kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schief. Aber ganz gleich, was sie auch versuchte, rund wollte ihr dieser Kristall nun wirklich nicht erscheinen. Dafür war er auch viel zu kantig! Und Kanten, die konnten einfach nicht rund sein.
„Es ist nicht schlimm, dass du es nicht siehst. Viele sind nicht mehr dazu in der Lage, den Ursprung zu sehen.“
„Den Ursprung?“ Er sprach ihr eindeutig zu geschwollen und in viel zu vielen Rätseln.
„Ja“, er nickte eifrig, „es soll dereinst einmal ein Portal gewesen sein. Eins der ersten Stunde.“
Abrupt erhob Kila sich. Portale! Doch ein Spinner, der nichts als Märchen erzählen wollte, und ganz gleich, was er nun weiter sagen würde. Es würde ihr nicht dabei helfen, dieses Bild bei Käufern interessanter zu machen. Besser sie kam hier weg, ehe sie ihn gar nicht mehr loswurde.
„Portale gibt es nicht.“ Sie starrte auf den Kristall, während sie ihren Block und den Stift eilig in ihrer Tasche verschwinden ließ. Portale konnte es nicht geben, das hatten die Theorien der Großmeister ergeben, es würde zu Löchern im Raum-Zeit-Gefüge kommen und niemand wusste, was das bedeuten könnte!
Trotzdem, zwischen all den glitzernden Tälern und Gipfeln war es Kila nach wie vor, als könne sie Turmbauten und anderes erkennen, dass sie nur zu sehr an Gebäude erinnerte, und das ganz gleich, aus welchem Blickwinkel sie den Kristall betrachtete, während sie ging.
„Wirklich? Vielleicht gibt es sie nur nicht mehr?“