Louis lehnte sich an die Arbeitsplatte, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Lysander. »Na, dann rede. Ich bin ganz Ohr.«
»Ich … hab Mist gebaut. In Paris.« Die Stimme des silberhaarigen Vampirs war leise und er hielt den Blick gesenkt.
»Du hast also Mist gebaut! Inwiefern?«, wollte Louis wissen, aber Lysander schwieg.
Der Stallmeister gab ihm einen Moment, um sich zu sammeln, bevor er weiter nachhakte. »Inwiefern, Lysander? Du musst schon den Mund aufmachen. Gedanken lesen kann ich noch nicht.«
Langsam hob der Angesprochene den Kopf und schaute Louis kurz an, bevor er die Lider erneut niederschlug, die Lippen zusammengepresst. Dem Stallmeister kam es wie eine Ewigkeit vor, bis Lysander endlich zu reden anfing.
»Ich hab jemanden vom Hotelpersonal gebissen.« Die Worte kamen stockend und sehr leise. »Der Blutdurst war so groß und ich … hatte mich nicht mehr unter Kontrolle.«
»Das kommt vor«, erwiderte Louis, »hast du ihn getötet?«
Lysander schüttelte energisch den Kopf. »Nein, das hab ich nicht.«
»Und wo ist dann das Problem? Du hast ihm doch die Erinnerung daran genommen … hoffe ich.«
»Ja … ja, das hab ich natürlich getan. Aber …« Erneut machte Lys eine Pause, aber Louis hatte genug von dem Gestammel. Er stieß sich von der Arbeitsplatte ab, ging zu dem Anderen herüber und vor diesem in die Hocke. Lysanders Kinn mit Daumen und Zeigefinger umfassend, hob Louis es an und zwang seinen Freund, ihn anzusehen.
»Du hast jemanden gebissen, aber nicht getötet. Das kann dich aber doch nicht so aus der Fassung gebracht haben. Also: Was … ist noch passiert?«
Louis konnte Lysanders leichtes Zittern spüren, als dieser nun fortfuhr.
»Riley … hat mich gesehen …« Seine Stimme war nur noch ein Hauch.
»Was? Wie? Hast du es vor seinen Augen getan?«
Ein weiteres Mal schüttelte Lys den Kopf. »Natürlich nicht. Hältst du mich für so dumm? Ich war im Flur des Hotels, als es passiert ist. Rye war in der Suite und hat geschlafen. Zumindest war das noch so, als ich gegangen bin.« Leise seufzend hielt Lysander einen Moment inne, bevor er weitersprach. »Na ja, er wollte lieber auf dem Zimmer essen und ich ihm diesen Wunsch erfüllen. Also hatte ich ihm einen Zettel hingelegt, wo er mich findet, für den Fall, dass er aufwacht und bin runter in die Lobby gegangen. Dort hab ich gewartet und als der Hotel-Page schließlich mit dem Essen kam, bat er mich, mir helfen zu dürfen. Ich habe eingewilligt und wir sind gemeinsam nach oben gefahren.
Und da ist es über mich gekommen. Ich konnte mich nicht beherrschen. Sein Duft war einfach zu verführerisch. Also hab ich von ihm getrunken.« Wieder pausierte der Unsterbliche und atmete tief durch. Das Erlebte zu erzählen, fiel ihm unglaublich schwer. Selbst seinem engsten Freund gegenüber. »Blöd war nur, dass der Servierwagen dabei gegen die Tür unserer Suite gerollt ist. Das hat Riley gehört und als er geöffnet hat, hatte er das pure Grauen vor Augen. Den Pagen in einer Lache seines Blutes auf dem Boden liegend und mich, mit blutverschmierten Lippen. Seine Reaktion darauf kannst du dir wahrscheinlich vorstellen.«
Mit einer ruckartigen Kopfbewegung befreite Lysander sich aus Louis‘ Griff und schlug die Hände vor das Gesicht. »Ich hatte keine andere Wahl als ihn vergessen zu lassen, was er gesehen hatte.«
Der Stallmeister stand langsam auf und schnaufte. »Das ist natürlich heftig. Ich denke, da war es tatsächlich das Beste, ihm die Erinnerung zu nehmen. So eine Situation ist nicht unbedingt optimal, wenn man jemandem, den man liebt, sein wahres Wesen zeigen will.«
Er ging um den Tisch herum und setzte sich ebenfalls. »Aber du bist nicht der Einzige, dem ein Fauxpas in die Richtung passiert ist. Auch wenn es bei mir … besser gelaufen ist.«
»Und das heißt?«
»Dass Eric Bescheid weiß. Er hat mich sozusagen erwischt, als ich mir etwas Blut von den Pferden gestohlen habe«, erwiderte Louis. »Und da er echt cool reagiert hat, hab ich ihm sein Wissen gelassen.«
»Du spinnst! Was, wenn er uns verrät?« Lysander starrte seinen Stallmeister fassungslos an.
»Wird er nicht.«
»Woher willst du das wissen? Hm? Außerdem werden die Clans das nicht dulden.«
»Ich weiß es eben. Und die Clans sind mir egal. Ich lasse mir nicht vorschreiben, ob ich einen Menschen lieben darf oder nicht«, knurrte Louis ungehalten.
Lysander seufzte. »Meinen Segen hast du. Ich hoffe nur, dass dein kleiner Freund wirklich so vertrauenswürdig ist und dass euch so schnell niemand auf die Schliche kommt.«
»Vielleicht solltest du mal versuchen, deinem Freund zu vertrauen. Eventuell reagiert der ja unter normalen Umständen gar nicht panisch. Ich werde Eric jedenfalls nicht manipulieren. Punkt!« Mit diesen Worten stand Louis auf und widmete sich wieder dem Essen, während Lysander erneut in Schweigen verfiel. Vermutlich hatte sein Stallmeister recht, aber … Nein, er, Lysander, war noch nicht so weit, das Risiko einzugehen, dass es vielleicht doch anders sein und Riley sich von ihm abwenden könnte. Außerdem war eine derartige Verbindung bei den Clans nun mal nicht gerne gesehen und wurde genauestens im Auge behalten, wenn sie Kenntnis davon erlangten. Die Ältesten der Unsterblichen ließen sich nur in den seltensten Fällen auf Kompromisse ein, wenn es um Verstöße gegen die von ihnen aufgestellten Regeln ging. Selbst in der heutigen, modernen Zeit jagten Menschen Vampire, wenn sie von ihrer Existenz erfuhren und um diese zu schützen, musste diese geheim bleiben. So wurden Sterbliche, die davon wussten, entweder verwandelt oder sogar getötet. Gedankenmanipulation hingegen war keine Option für die Clans, weil diese nicht immer so funktionierte, wie sie sollte und die Gefahr bestand, dass ein Mensch sich irgendwann doch wieder erinnerte.
Es war also auf mehrere Arten gefährlich für einen Sterblichen, einen Vampir zu kennen. Und zu lieben erst recht. Solange Riley aber nicht wusste, was Lysander war, sollte er relativ sicher sein – zumindest hoffte der Unsterbliche das.
»Sag ihm, was du bist«, unterbrach Louis die Gedanken seines Freundes schließlich.
»Das kann ich nicht.«
»Doch, das kannst du und ich finde sogar, dass du es ihm schuldig bist.«
Lysander sah seinen Stallmeister ungläubig an und hob eine Augenbraue. »Schuldig? Inwiefern?«, fragte er leise.
»Weil Riley die Wahrheit verdient. Versetz dich doch mal in seine Lage. Auch wenn du seine Gedanken manipuliert hast, du verhältst dich unbewusst anders, weil du nun mal weißt, was vorgefallen ist. Und er spürt das. Außerdem, was, wenn seine Erinnerung eines Tages zurückkommt – du weißt, dass das möglich ist. Und selbst, wenn es nur bruchstückweise sein sollte, was willst du dann tun? Ihm sagen, dass du ihn wissentlich belogen hast – vielleicht jahrelang?« Louis hielt einen Moment inne, bevor er fortfuhr: »Schenk ihm reinen Wein ein, Lys. Das ist besser als eine ewige Lüge, die zwischen euch steht und von der du nie weißt, ob und wann sie ans Licht kommt.«
Lysander schüttelte den Kopf und knetete seine schlanken Finger. »Und was, wenn er dann geht?«
»Auch auf die Gefahr hin, dass er sich erst einmal von dir distanziert, das ist trotzdem besser als wenn er es irgendwann durch einen dummen Zufall herausfindet. Vielleicht in ein paar Monaten … und dann geht, weil er sich betrogen fühlt von dir«, setzte Louis dagegen.
»Dann ist es eben so.«
Der Stallmeister schnaubte leise. »Ich denke einfach, dass du einen Fehler machst, wenn du das Ganze auf einer Lüge aufbaust. Aus persönlicher Angst und wegen der Clans. Aber … mach was du willst. Nur komm nicht zu mir und heul rum, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Und jetzt entschuldige mich. Ich brauche frische Luft.« Damit verließ Louis die Küche, zog sich an der Garderobe seine Jacke und Schuhe an und verschwand hinaus in die Kälte. Einerseits konnte er Lysanders Angst verstehen, andererseits stand er zu seiner Meinung. Eine Lüge zu leben, nur um nicht verlassen zu werden, weil dem Partner etwas an einem selbst nicht gefiel oder gefallen könnte? Das war für den Stallmeister keine Option und sollte es seiner Meinung nach auch für Lysander nicht sein. Eigentlich. Louis seufzte schwer und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Er stapfte durch den frischen Schnee hinüber zu dem kleinen Stall, öffnete die schwere Tür und betrat das Gebäude.
Der Stallmeister hatte zu dem Ganzen alles gesagt. Was sein Freund jetzt daraus machte oder auch nicht, war nicht mehr Louis‘ Problem.
Lysander saß währenddessen immer noch wie festgewachsen auf seinem Stuhl und die Worte seines Freundes echoten in seinem Kopf. Irgendwie hatte Louis ja recht, aber ... Langsam stand der Unsterbliche auf und ging hinüber in das Wohnzimmer. Er nahm eine Flasche Scotch aus der Schrankbar sowie ein Glas und nahm in seinem Sessel vor dem Kamin Platz. Nachdenklich schaute er in die Flammen. Sollte er es wirklich wagen, Riley sein wahres Wesen zu offenbaren? Der innere Kampf, den der Unsterbliche mit sich führte, war überdeutlich auf seinem Gesicht abzulesen. Er umfasste das Glas so fest, dass es schließlich mit einem Klirren in seiner Hand zerbrach.
»Verdammt«, fluchte Lysander und leckte das Blut von den kleinen Schnitten in seiner Haut, die sich daraufhin augenblicklich schlossen. »So kann das nicht weitergehen.«
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Von all diesen Gedankengängen ahnte Riley nichts. Er hatte sich vorgenommen, das Training des Friesenhengstes seines Vaters aufzunehmen, denn dafür hatte dieser das Pferd schließlich hergebracht. Der junge Mann hatte keine Lust, sich einen Anschiss seines alten Herrn einzufangen, wenn der das Tier wieder abholte und nicht mit diesem gearbeitet worden war. Seufzend holte Riley den Rappen aus seiner Box, um ihn für den Ritt vorzubereiten. Tim Andersson konnte zwar nicht hellsehen, aber Rye kannte seinen Vater. Der würde nachfragen und ihn anzulügen, das würde der junge Mann nicht fertigbringen. Dafür war sein Respekt, nein, seine Angst, vor diesem Menschen einfach immer noch viel zu groß. Tim war ein einziges Mal seinem Sohn gegenüber handgreiflich geworden, aber das hatte gereicht, um das Vertrauen dauerhaft zu zerstören. Danach war Riley jedes Mal zusammengezuckt, wenn sein Vater eine schnelle Handbewegung in seiner Nähe gemacht hatte.
Ganz in seinen Gedanken versunken, legte er schließlich die Bürste zur Seite, sattelte das Pferd und ging anschließend mit ihm hinüber in die große Reithalle. Nachdem er den Hengst zwei Runden geführt hatte, stieg er auf den Rücken des mächtigen Tieres und trieb dieses energisch vorwärts. Große Lust auf das Training hatte Riley nicht und das übertrug sich natürlich auf Zeus. Der widersetzte sich in allem seinem Reiter, was auch immer dieser von ihm verlangte. Und so kam es, dass Rye nach einer halben Stunde den Kampf schließlich aufgab und mit dem Pferd die Reithalle wieder verließ.
»Nun, wie du willst, mein Junge, aber wenn du glaubst, du kannst ne faule Kugel schieben, dann muss ich dich enttäuschen. Wir werden jetzt ein bisschen ins Gelände gehen und da kann man auch wunderbar arbeiten«, redete Riley laut mit dem Pferd, als sie den Hof überquerten.
Eric, der gerade aus seiner kleinen Werkstatt kam, um sich auf den Weg zum Markt zu machen, grinste. »Glaubste, er hat das jetzt auch alles verstanden? Nicht, dass du es ihm gleich noch mal erklären musst.«
»Ich denke, das hat er. Ist doch ein intelligentes Tier.«
»Na, dein Wort in Gottes Ohr.« Eric packte seine Sachen in die Satteltaschen seines Pferdes, das vor dem Stall angebunden stand, schwang sich auf dessen Rücken und schloss zu Riley auf. »Bis zur Kreuzung oben begleite ich dich, wenn du nichts dagegen hast.«
»Warum sollte ich?«, antwortete Riley und musterte seinen Kollegen von der Seite. »Wie lange geht der Markt eigentlich noch?«
»Bis zum dreiundzwanzigsten Dezember. Sind also nur noch ein paar Tage. Weihnachten haben wir Ruhe beziehungsweise ich und darüber bin ich auch ganz froh. Es ist nicht wirklich angenehm, in der Saukälte dazustehen – selbst wenn viel los ist. Macht mehr Spaß, wenn es wärmer ist. Aber zumindest konnte ich einige Leute von meiner Arbeit überzeugen und die bleiben mir dann auch nach dem Markt erhalten. Also hat sich das Ganze gelohnt.«
»Das ist doch toll. So sollte es im besten Fall laufen.«
»Jap. Is‘ wohl so«, erwiderte Eric. »Wurde ja auch langsam Zeit, nachdem ich eher im Jahr sehr wenig Glück hatte.«
Sie waren mittlerweile an der besagten Kreuzung angekommen, an der es geradeaus nach Visby-Stadt ging.
»Da hast du wohl recht. Manchmal dauert es leider, bis man Fuß gefasst hat«, sagte Riley und fuhr dann fort, »ich hab mir gerade überlegt, ich begleite dich bis zum Markt und reite auf der hinteren Seite wieder aus der Stadt. Dann sieht und hört Zeus auch mal was anderes.«
»Klar, warum nicht? Dann komm. Ich muss mich ein bisschen sputen.«
Nachdem Riley Eric an seinem Marktstand zurückgelassen hatte, ritt er noch ein wenig durch die Straßen und Gassen der Stadt, bevor er diese durch das östliche Tor wieder verließ. Dort hielt er Zeus an und ließ den Blick über die Gegend schweifen. Dabei schoss ihm kurz eine Idee durch den Kopf, die er aber sofort wieder verwarf. Nein, er würde nicht mal eben zu Lysander reiten, um ihn zu besuchen. Schließlich hatte er, Riley, zu arbeiten, auch wenn er den Besuch wunderbar mit diesem Ausritt hätte verknüpfen können, aber … Nein! Außerdem war es nicht mal vierundzwanzig Stunden her, dass sie zusammengewesen waren.
Der junge Mann schüttelte den Kopf und machte sich in die entgegengesetzte Richtung auf, um in einem Bogen um die Stadt wieder nach Hause zu reiten.