Schon als das laute Klopfen ihrer Mutter an der Tür zu ihrem Zimmer sie in aller Herrgottsfrühe geweckt hatte, wusste sie, dass dieser Tag kein Vergnügen zu werden versprach. Anstelle eines ruhigen Morgens mit ihrer geliebten Tasse Tee, einem guten Buch und einem anschließenden Spaziergang durch den Garten zu verbringen, musste sie sich nun mit ihrer Mutter und einer Hausangestellten herumärgern. Energisch wedelte diese mit einem Alptraum aus Tüll vor ihre Nase herum und schien auf ein Anzeichen von Freude in Emilias Gesicht zu warten.
"Nun schau nicht so unzufrieden drein, das gibt Falten.", tadelte ihre Mutter sie. Falten, als wäre dies just ihr größtes Problem. Viel mehr sorgte sie sich darum, dass ihre Mutter festentschlossen schien, sie in dieses Ungetüm von einem Kleid zu stecken.
"Du weißt wie sehr ich pink hasse", bemerkte Emilia störisch, um jeden Zweifel an ihrem Missfallen der Situation zu beseitigen.
"Das ist koralle!", korrigierte ihre Mutter sie verärgert. "Ich erwarte heute mustergültiges Verhalten von dir. Du weißt, wie wichtig der Ball ist. Er gehört zur Tradition unserer Familie. Und auch wenn es dir missfällt, bist du nun mal ein Teil davon."
Diesen Text konnte Emilia bereits in Gedanken mitaufsagen. Schließlich wiederholte ihre Mutter ihn jedes Jahr erneut, seitdem Emilia im Alter von drei Jahren angefangen hatte zu offenbaren, dass sie wohl nicht den Vorstellungen einer beispielhaften Tochter entsprach. Emilia war Teil einer alten Herrschaftsfamilie. Jedes Jahr veranstalteten ihre Eltern nach alter Tradition einen Ball, bei dem man wohl eingeladen sein musste, wollte man von Bedeutung sein. Emilia für ihren Teil wollte das nicht. Und so hatte sie bereits vor Wochen damit begonnen, sich einen Plan zurecht zu legen, um dieser Zusammenkunft von Wichtigtuern zu entkommen.
In einem der Fächer ihres Schmuckschränkchens hatte sie ein kleines Fläschchen mit einer blauen Substanz versteckt. Silas, der Sohn des Alchemisten, hatte es für Emilia gestohlen. In einem unbeobachteten Moment goss sie ein paar Tropfen davon auf ihre Zunge. Langsam bildeten sich auf ihrer gesamten Haut verteilt unförmige Punkte, die der Farbe des schrecklichen Kleides sehr nahe kamen. Elssamen ahmten die äußeren Symptome einer ausgewachsenen Fleckengrippe nach, ohne dass man tatsächlich krank wurde.
Emilia wankte kurz benommen vom Schrank zu ihrem Bett, um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter zu erregen.
"Kind, geht es dir nicht gut?",erkundigte sie sich argwöhnisch.
Mit schwacher Stimme erwiderte Emilia: "Es wird schon gehen.".
Die Hausangestellte wies auf die Flecken in Emilias Gesicht hin und schlug vor, einen Heiler rufen zu lassen.
"Ich fürchte, es wird sich nicht vermeiden lassen.", befand ihre Mutter widerwillig. "Du solltest dich wohl lieber ausruhen. Zudem können wir nicht risikieren, dass unsere Gäste sich bei dir anstecken."
Als sich die Zimmertür wieder schloss und Emilia endlich allein war, huschte ein zufriedenes Lächeln über ihre Lippen. Gleich würde man ihr Tee bringen und bis der Heiler eintraf, würde es noch Stunden dauern. Bis dahin würde sie in aller Ruhe ihr Buch zu Ende lesen.