Emilia fühlte sich kopflos. Fühlte? Nein, sie war kopflos.
Andererseits, konnte man denn so ganz ohne Kopf denken?
War sie etwa tot?
Autsch! Verflixt, das hatte wehgetan.
Reflexartig griff sie nach ihrem linken Schienbein, während sich ein pochender Schmerz darin ausbreitete. Mit ihren Fingern ertastete sie eine warme Flüssigkeit.
Puh. Das war erleichternd.
Geister spürten keinen Schmerz und sie konnten auch nicht bluten, beruhigte sich Emilia. Nur wenn sie nicht tot war, was war dann mit ihr geschehen? Sicherheitshalber suchten ihre Hände noch einmal nach ihrem Kopf, für den Fall, dass sie ihn eben lediglich verfehlt hatte und bloß ihre Augen den Dienst quittierten.
Nichts. Dort, wo eben noch ihr Kopf saß, befand sich lediglich ein Hals und, nun ja, Luft vermutlich. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Sie zuckte zusammen. Rasch überprüfte sie, ob es womöglich eine ihrer Hände war und als sie beide an dem bekannten Ort vorfand, trat sie blitzschnell und wütend nach hinten aus.
Das hatte er verdient, befand Emilia und bedauerte, dass sie neben der fehlenden Augen auch ihre Ohren vermisste.
Dieser Stümper.
"Mein Vater meint immer, er sei so etwas wie ein Koch. Ich habe ihm schon tausendmal dabei zugesehen und kochen kann ich schließlich auch", hatte Silas sie beeindrucken wollen und nun verfluchte sie sich dafür, ihm vertraut zu haben. Dass er sie mochte, wusste Emilia schon eine ganze Weile und so hatte sie es sich hin und wieder zu Nutzen gemacht, mit dem Sohn des Alchemisten befreundet zu sein.
Dieses Mal hatte sie ihn um einen Trank gebeten, der sie für kurze Zeit unsichtbar machen sollte. Anstatt ihr wie gewohnt den Trank ins Schloss zu bringen, hatte er heute jedoch darauf bestanden, dass sie ihn begleitete. Der Aussicht auf ein kleines Abenteuer, war sie nicht abgeneigt gewesen und so schlich sie von ihrem Zimmer bis zum Laboratorium, wo Silas ihr nervös gebeichtet hatte, er müsse den Trank selber brauen. Jetzt fragte sie sich, wieso in Xelis Namen sie sich darauf eingelassen hatte.
"Zu guter Letzt noch eine Prise gemahlenes Necserkraut", hatte er stolz verkündet, während er viermal kräftig im Kessel herumrührte. Verblüfft hatte er das Resultat betrachtet.
"Ich bin beeindruckt", spottete Emilia, "du hast Luft erschaffen."
Silas ließ sich nicht beirren und goss behutsam das Nichts in zwei silberne Fläschchen.
Herausfordernd streckte er ihr eines davon entgegen und erwiderte: "Wenn du mir nicht glaubst, dann teste doch selbst, ob ich dir nur etwas vorgemacht habe." Zögerlich nahm sie das Fläschchen entgegen, führte es an ihre Lippen und trank einen zaghaften Schluck.
"Was zum...", wollte Emilia sich empören, als eine Hand ihr blitzartig die Flasche entriss, doch die Wörter blieben ihr buchstäblich im Halse stecken.
Schlagartig war sie von Leere umgeben gewesen.
Mit voller Wucht traf ihr Fuß auf etwas Hartes und im selben Augenblick ließ die fremde Hand von ihr ab. Ihre Gedanken rasten. Verzweifelt sann sie nach einer Möglichkeit, sich zu orientieren, als vier Arme schroff und unvermittelt ihren Körper ergriffen. Außer sich und mit aller Kraft versuchte, Emilia sich zu befreien, doch es hatte keinen Zweck. Die Arme trugen sie wankend durch das Nichts, bis sie sie nach einer Weile auf einen weichen Untergrund legten und anschließend seltsame Stricke um ihre Hand- und Fußgelenke wickelten. Dann war alles still. Sie versuchte sich zu bewegen und begriff angsterfüllt, dass man sie festgebunden hatte. Was sollte all das? Hatte Silas ihr eine Falle gestellt? Wo hatte man sie hingebracht? Heftig riss sie an ihren Fesseln. Panik machte sich in ihr breit und ließ sie erstarren.
Lange lag sie einfach wartend da, während ihre Gedanken sie an dunkle Orte trugen. Wie viel Zeit verging, wusste sie nicht.
Eine Explosion der Sinne, so konnte man es wohl beschreiben, überflutete sie, als die Wirkung des Trankes vorüber ging. Ihre Augen hatten Schwierigkeiten, sich an das Licht zu gewöhnen und so erkannte sie ihre Mutter, wenn auch nur bruchstückhaft, an der Stimme.
"Darian und sein Sohn Silas haben dich zum Selbstschutz ins Schloss gebracht und dich am Bett fixiert.", beantwortete diese Emilias unbeholfen gemurmelte Frage danach, was passiert war. "Das war ausgesprochen fahrlässig. Das hätte deutlich schlimmer enden können, das ist dir doch klar?"
Halbherzig nuschelte Emilia: "Es tut mir leid, Mutter."
Ihre Mutter fuhr ungerührt fort: "Du wirst die nächsten zwei Wochen viel Zeit haben, um über dein verantwortungsloses Benehmen nachzudenken. Zudem erwarten wir, dass du deine fragwürdige Freundschaft mit diesem Jungen beendest."
Schlagartig versiegte ihre Wut auf Silas. Der Gedanke ihn zu verlieren, traf sie mehr, als sie geahnt hatte. Auf eine komische Art hatte er sich in ihr Herz geschlichen. Und noch bevor sie es wusste, entschloss sie sich, ihn sobald wie möglich wieder zu sehen.