Draußen war es ruhig. Versteckt hinter grauen Nebelschwaden, bemalten die Bäume ihre Blätter in den allerschönsten Herbsttönen, während ein kühler Wind durch das geöffnete Fenster wehte.
"Was für ein herrlicher Morgen", seufzte Leon glücklich und beobachtete, wie ein Schwalbenschwarm über das Dach des alten Anwesens hinweg flog.
Ein Poltern erklang aus dem Untergeschoss. "Vater scheint bereits auf den Beinen zu sein", stellte Leon gut gelaunt fest und beschloss, ihm Gesellschaft zu leisten.
Er atmete noch einmal tief ein, schlüpfte in seinen blauen Morgenmantel und machte sich auf den Weg zur Küche. Auf dem obersten Treppenabsatz hielt er abrupt inne.
"So eine Frechheit!", erklang es wütend in der Wohnstube, "Das lass ich mir nicht bieten!". Mit hochrotem Kopf zerriss ein kleiner, rundlicher Mann einen Brief, um diesen anschließend in das knisternde Kaminfeuer zu werfen. Gierig leckten die Flammen an dem Papier. Leon entschied, lieber gar nicht erst wissen zu wollen, was es damit auf sich hatte, doch zu seinem Leidwesen hatte sein Vater ihn bereits bemerkt.
"Du wirst es nicht glauben! Unser werter Herr Nachbar bezichtigt mich doch allen Ernstes des Diebstahls!".
"Guten Morgen Vater", seufzte Leon und wandte sich ab. Er hatte nicht die Absicht, sich diesen herrlichen Tag schon so früh vermiesen zu lassen.
"Seinen Köter soll ich ihm gestohlen haben. Kannst du das glauben? Was denkt er eigentlich, wer er ist?", echauffierte sein Vater sich.
"Seinen Hund?", wiederholte Leon und blieb wie angewurzelt stehen.
"Spreche ich undeutlich?", blaffte sein Vater.
Leons Kopf lief auf Hochtouren. Hätte sein Vater ihn in diesem Moment nur ein wenig mehr beachtet, so hätte er wohl unweigerlich das schlechte Gewissen bemerkt, welches Leon in Großbuchstaben ins Gesicht geschrieben stand. Er hatte helfen wollen, keinen Kleinkrieg anzetteln. Wie hätte er auch darauf kommen sollen, dass der Nachbar ausgerechnet seinen Vater verdächtigen würde. Nun gut, die beiden waren nicht gerade die besten Freunde, aber das? Nein, das hätte er unmöglich ahnen können.
Schon seit einigen Monaten war ihm aufgefallen, in welcher schlechten Verfassung der Bernhardiner gewesen war. Auf dem Hof an einer kurzen Kette festgebunden, lief er Tag für Tag von seinem Besitzer unbeachtet im Kreis. Und nun stand der Winter bevor. Leon wusste, dass der alte Hund die Kälte nicht überstehen würde und so entschloss er sich, etwas dagegen zu unternehmen. Nach ausgiebiger Recherche hatte er eine Tierschutzorganisation verständigt, die dem Hund eine neue Familie finden würde, sobald sie ihn befreit und aufgepäppelt hätten.
Gestern Nacht war es soweit gewesen. Offenbar hatte es geklappt, denn der Hof des Nachbarn war ihm leer erschienen, als er eben prüfend aus dem Fenster geblickt hatte. Und naja, dann war da ja auch noch der Brief.
Streng genommen stimmte das mit dem Diebstahl zwar, aber Leon hatte sich vorsichtshalber dazu entschlossen, diesen Part den Profis zu überlassen.
"Der kann dir doch nichts nachweisen, was du nicht getan hast", versuchte er wohl mehr sich als seinen Vater zu beruhigen.
"Das soll der Mistkerl ruhig versuchen", erwiderte dieser aufgebracht.
Der Tag würde heiter werden, ahnte Leon und entschied, dass all das bis nach dem Frühstück warten müsste.