Aus dem Tagebuch eines Regenwurms
Ein leichtes Beben ging durch meinen Körper und riss mich aus dem Schlaf. Wie mich so etwas nervte. Die gesamte Nacht über musste ich schuften, einen Tunnel nach dem anderen graben und dann wurde man derartig rücksichtslos geweckt.
Müde setzte ich meine Glieder in Bewegung, um zu überprüfen, ob das Beben zu einem Einsturz meiner Arbeit geführt hatte.
Alles noch stabil. Natürlich. Ich baute ja auch nur meisterhafte Gänge. Beruhigt blieb ich liegen und machte es mir wieder gemütlich.
Wasser.
Das konnte doch bloß ein schlechter Scherz sein.
Meine Borsten registrierten eindeutig ein großflächiges Prasseln. Konnte man denn nicht einmal seine Ruhe haben? Angestrengt fühlte ich in den Boden hinein und verschluckte mich beinahe an einem Tropfen, der die Dreistigkeit besaß, unverhohlen in meinen offenen Mund zu fallen.
Vor Ärger bemerkte ich erst reichlich spät, wie schnell sich mein fabelhaftes Tunnelsystem mit Wasser füllte.
Die Luft wurde dünn. Ojemine. Wo war bloß oben?
Ah ja, richtig. Dort, wo dieser nasse Fluch seinen Ursprung hatte. Wer hatte sich eigentlich diesen Mist ausgedacht? Es half nichts. Wenn ich nicht ersaufen wollte, musste ich graben. In Windeseile fraß ich mich durch den reichhaltigen Unterboden hinauf zum schmackhaften Hummus und letztlich durch diesen fürchterlich unappetitlichen Torf.
Luft.
Immerhin, ich konnte wieder atmen.
Licht traf auf meine Haut und erzeugte ein leichtes Brennen. Lange würde ich hier nicht bleiben können, doch für die kurze Zeit bedurfte es eines Unterschlupfes und so kroch ich eilig drauf los, bis ich mit meinem Kopf gegen etwas Glattes, Biegsames stieß. Gras. Der Geschmack war nicht zu verwechseln. Zwischen den Halmen wäre ich zumindest nicht ganz so leichte Beute, auch wenn ich von hier den Eingang zu meinem Gewölbe nicht sehr rasch erreichen würde. Was soll‘s. Schlafen würde ich an diesem Tag sowieso nicht mehr.
Nach einer Weile wurde das Prasseln weniger und ich überlegte, ob ich mich zurück in meinen Bau wagen sollte, als ich mich ruckartig in die Lüfte erhob.
Etwas oder besser gesagt jemand hatte mich gepackt und das war sicherlich kein Retter in der Not. Nicht schon wieder. Nein, ich hatte wirklich keine Lust. Dieser Vorgang war widerwärtig und äußerst qualvoll und doch war es mein einziger Ausweg. Ich musste meinen letzten Vorteil spielen. Unter Aufbringung all meiner Willenskraft fokussierte ich mich auf die gefangenen Teile meines Körpers und trennte sie unter großen Schmerzen von meinen vorderen Gliedern ab.
Ich konnte fliegen. Oder genauer gesagt, fallen. Vielleicht hatte ich den Plan nicht ganz ausreichend durchdacht. Würde ich auf einem dieser rauen Steinböden landen, wäre es aus mit mir. Auch gut. Je eher diese Aufregung ein Ende hatte, umso besser. Beinahe vorfreudig spannte ich meinen Körper an und stürzte mich kopfüber in mein Schicksal.
Pflomp. Dunkelheit umhüllte mich.
Überrascht bemerkte ich, dass ich nicht tot war. Erschöpft blieb ich liegen und versuchte unter möglichst geringer Anstrengung meine Umgebung abzutasten. Die feuchte Erde fühlte sich seltsam vertraut an und auch diese Wurzel, die mich an meinem Rücken kitzelte, war mir nicht unbekannt.
Falls nicht irgendwer irgendwo ein beinahe perfektes Abbild meines Zuhauses nachgebaut hatte, musste ich genau dort sein, daheim.
Die Strapazen des Tages machten sich in Form von meinem fehlenden Hinterteil bemerkbar und eine bleierne Müdigkeit überkam mich.
Das war genug Unruhe, befand ich und beschloss, den Winterschlaf dieses Jahr vorzuziehen.