Zehn Meter, schätzte Emilia. Möglicherweise auch elf. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus, während sie die beunruhigenden Szenarien, alle Bilder des Scheiterns, aus ihren Gedanken zu vertreiben versuchte. Furcht würde ihr nur im Wege stehen und sie im schlimmsten Falle unachtsam werden lassen. Noch ein letztes Mal lief sie, die Schritte zählend, entlang ihres Fluchtapparates und begutachtete die Knoten, welche Vorhänge und Bettlaken zu einem langen Seil verbanden.
Seit dem Vorfall mit ihrem verschwundenen Kopf war sie nun schon eine Woche in ihrem Zimmer eingeschlossen, selbst das Essen ließ man ihr von Bediensteten herauf tragen. Die ersten zwei Tage hatte sie viel geschlafen. Anscheinend war die Sache mit dem falschen Trank nicht ganz spurlos an ihr vorüber gegangen, dennoch rechtfertigte dieser kleine Unfall den Umfang ihrer Strafe lange nicht. Und würde ihre Mutter sie etwas besser kennen, hätte sie ahnen müssen, dass Emilia bald schon einen Ausweg aus ihrer Lage finden würde. Heute, solange ihre Eltern für ein geschäftliches Treffen in der Stadt verweilten, war der ideale Zeitpunkt für einen Ausbruch gekommen.
Sie band das eine Ende des Seils um einen der massiven Bettpfosten, beschwerte das andere mit einem Buch und warf es beherzt hinaus aus dem geöffneten Fenster.
Die Uhr schlug vier. Zu dieser Stunde versammelte sich das Hauspersonal täglich zu einer Dienstbesprechung im Westflügel, so dass niemand bemerken würden, was auf der Ostseite des Schlosses vor sich ging. Gespannt beobachtete Emilia, ob aus einem der unteren Fenster ein neugieriger Kopf zu ihr hinauf sah. Nichts. Mit zittrigen Beinen kletterte sie auf den Fenstersims und schickte ein Stoßgebet zu Xelis. Noch einmal kontrollierte sie das Seil, zog mit aller Kraft daran und stemmte schließlich ihre Füße gegen die Außenmauer. Tief krallten sich ihre Finger in den Stoff, bis ihre Knöcheln weiß hervortraten. Bloß nicht nach unten sehen, besann sie sich und fixierte mit ihrem Blick die Fassade des alten Gemäuers. Vorsichtig löste sie ihre linke Hand von dem Laken und griff einen halben Meter tiefer erneut danach. Nun lockerte auch der rechte Fuß seine Position und rutsche, zusammen mit ihrem gesamten Körper, einen halben Schritt hinab, um sich anschließend wieder gegen die Steinmauer zu lehnen.
Emilia atmete erleichtert aus. Immerhin, die Knoten hielten. Stück für Stück kletterte sie die steile Wand hinab, die Augen fest nach vorne gerichtet. Linker Fuß, rechte Hand. Rechter Fuß, linke Hand.
Wie ein Mantra erklangen diese Sätze in ihrem Kopf und gaben ihren Bewegungen einen Rhythmus vor.
Panisch das Seil umklammernd entwich ein Schrei aus ihrer Kehle, als das Laken in ihrer Hand schlagartig nachgab. Ein kurzer Blick nach unten ließ sie endgültig erstarren. Der Boden kam rasend näher und da war nichts, was ihren Aufprall dämpfen würde. Dann ertönte ein lauter Knall. Abrupt wurde ihr Fall gebremst, doch dem überraschend heftigen Zug des Seils konnte sie nicht standhalten und so glitt es durch ihre Hände.
Emilia schloss die Augen und für einen kurzen Moment schien die Zeit still zu stehen, bis das harte Pflaster sie zurück in die Realität riss. Zögerlich hob sie ihren Kopf und stellte fest, dass diesmal all ihre Körperteile noch an den vorhergesehenen Plätzen waren. Ein kurzer Blick nach oben offenbarte, dass ihr Sturz nur zwei Meter bemessen hatte. Hoffentlich war der Lärm unbemerkt geblieben und hatte ihr keine unerwünschten Beobachter beschert, schoss es Emilia durch den Kopf. In jedem Fall sollte sie wohl lieber zügig von hier verschwinden. Ächzend erhob sie sich. Ihr Körper schmerzte zwar, es schien jedoch nichts gebrochen zu sein. Vermutlich hatte sie lediglich einige blaue Flecken und Prellungen erworben.
Lächelnd dachte sie an Silas. Ob er ihre Nachricht wohl erhalten hatte? Sie hatte ihn gebeten, heute am frühen Abend in ihrem Versteck auf sie zu warten und sie sehnte sich danach ihn wiederzusehen. Vorfreudig und mit pochendem Herzen schlich sie davon.