An einem hohen Zaun mit verschlossener Gittertür lehnte eine junge Frau mit verklärtem Blick. Hinter der Begrenzung führte ein steiler Hang hinab in ein Tal aus Erinnerungen ihrer Kindheit. Es schien beinahe, als wäre die Zeit an diesem Ort stehen geblieben, so wenig hatte er sich verändert.
Am unteren Ende des Stahltores befand sich eine Aussparung. Zögerlich kniete sie nieder und betrachtete es ausgiebig. Früher war sie regelmäßig hindurch geschlüpft, so wie alle anderen Kinder, die mit ihren Familien in diesem Wald campten.
Damals.. . Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Gedanken vertreiben und begab sich auf alle Viere. Kurz kontrollierte sie ihre Umgebung auf neugierige Beobachter, doch niemand schien sie zu bemerken. Mit einem Ruck atmete sie tief aus, krabbelte ein Stück nach vorn, steckte ihren Kopf durch die schmale Öffnung und zwängte ihren Oberkörper hinein. Zentimeter um Zentimeter schob sie ihren Körper voran, bis sie mit ihrer Hüfte stecken blieb. Mist. Vorsichtig drehte sie ihr Becken, in der Hoffnung sich zu befreien und erreichte damit das genaue Gegenteil.
"Brauchen Sie Hilfe?", erklang eine tiefe Stimme hinter ihr. Augenblicklich raste ihr Puls und ihr Gesicht begann einer Tomate zu gleichen. Sie musste reichlich lächerlich erscheinen, wie sie in dieser Tür steckte und zu allem Überfluss präsentierte sie dem Unbekannten auch noch ungeniert ihre Hinterseite.
"Äh", lachte sie nervös," ich schätze, die brauche ich tatsächlich". Am liebsten wäre sie im Boden versunken.
"Na da haben Sie Glück, dass ich gerade in der Nähe war. Ich habe nämlich einen Schlüssel, wissen Sie? Dieses komische Ding, das Türen öffnen kann."
Großartig. Ein echter Witzbold. Dieser Moment wurde gerade offiziell zu dem peinlichsten ihres Lebens. Im Nachhinein betrachtet, wäre es wohl naheliegend gewesen, bei einem der angrenzenden Wohnwägen darum zu bitten, ihr die Tür aufzuschließen. Doch sie hatte sich von der Nostalgie hinreißen lassen und nun hatte sie den Salat.
Verlegen erwiderte sie: "Ich fürchte, Sie müssten mir zuerst hier heraus helfen". Unvermittelt umfassten zwei starke Hände ihre Knöchel.
"Okay, auf drei. Eins, zwei, drei!" Mit einem kräftigen Ruck zog es sie unsanft zurück auf die andere Seite. Etwas unbeholfen rappelte sie sich auf und schaute in zwei strahlend blaue Augen. Rasch senkte sie den Blick und nuschelte ein "Danke".
"Oh dafür nicht," entgegnete er mit breitem Grinsen, "ich danke vielmehr Ihnen für dieses erheiternde Erlebnis."
Ich fass es nicht, schoss es ihr wütend durch den Kopf. Wie konnte man nur so unverschämt sein? Andererseits... er besaß einen Schlüssel.
"Was treiben Sie hier eigentlich? Ich glaube wir sind uns noch nicht zuvor begegnet, richtig?". Neugierig musterte er sie.
"Ich bin schon lange nicht mehr an diesem Ort gewesen." Wieder trat dieser nachdenkliche Ausdruck auf ihr Gesicht. "Entschuldigung, ich habe noch gar nicht nach Ihrem Namen gefragt, wie unhöflich von mir. Ich heiße Charlotte und wer sind Sie?", erkundigte sie sich freundlich.
Mit ausgestreckter Hand entgegnete der Mann: "Richard, freut mich sehr!".
"Wäre es in Ordnung, Sie um noch einen Gefallen zu bitten? Ich würde zu gern auf den Spielplatz und die Tür ist, wie sie ja wissen, verschlossen. Könnten Sie sie vielleicht für mich öffnen?", hoffnungsvoll lächelte sie ihn an.
"Unter einer Voraussetzung", eröffnete er mit ernster Miene, "Sie erzählen mir, warum sie so versessen darauf sind, in dieser alten Sandkuhle zu toben."
Sie zögerte. Wollte sie wirklich mit einem Fremden darüber sprechen? Wieso eigentlich nicht. Es könnte nett sein, die Erinnerungen mit jemandem zu teilen und im Zweifel würde sie ihn danach nie wieder sehen.
"Okay", nickte sie und schon griff er in seine linke Hosentasche und beförderte einen kleinen silbernen Schlüssel hervor. Die Tür schwang auf und sie traten hindurch. Vor ihren Füßen lag eine Senke aus der ein dutzend Spielgeräte empor ragten.
"Ich möchte darauf", verkündete sie mit ausgestrecktem Finger. Jener deutete auf ein Kaktus ähnliches Holzgebilde, welches sich um die drei Meter hoch in den Himmel erhob und an dessen Stamm mehrere Balken reihum in verschiedenen Höhen angebracht waren. Flink erklomm sie das Gerüst, wobei der Fremde ihr mit geschickten Bewegungen folgte, und nahm auf der obersten Stange Platz. Richard setzte sich neben sie.
"Dann erzählen Sie mal."
Ihr Blick wanderte in Richtung Meer, welches sich in der Ferne hinter den Baumkronen erahnen ließ.
"Meine Großeltern hatten vor 15 Jahren einen Platz in diesem Wald gemietet. Jede Ferien sind sie mit mir hierher gefahren. Ich bin immer durch das Loch im Zaun gekrochen und habe von hier oben aus die See beobachtet, bis meine Großmutter mich zum Essen rief." Trauer lag in ihren Augen. "Letzten Monat ist mein Großvater gestorben." Sie räusperte sich, während eine stille Träne über ihr Gesicht rann.
"Das tut mir leid", bekundete Richard aufrichtig.
"Danke, das weiß ich zu schätzen." Charlotte verstummte. Sie war hierhergekommen, um Abschied zu nehmen, doch nun drohten die Erinnerungen sie zu überwältigen.
"Und ich bin auch noch dermaßen taktlos, mich Ihnen aufzudrängen. Möchten Sie vielleicht lieber alleine sein?", fragte er beschämt.
Sie hielt inne und horchte in sich hinein. Dieser Ort war für sie stets ein Ort der Gemeinschaft gewesen. Ein Ort der Freude. Und ein Ort der Familie, erklang es in ihren Gedanken.
"Wenn Sie mögen, würde ich Ihnen gern von meinem Großvater erzählen." Einen Wimpernschlag lang leuchteten ihre Augen auf, dann wandte sie sich wieder ihrem Begleiter zu.
"Ich denke, dass würde ihm gefallen."