Meine Eltern hatten ungewöhnliche Pläne für unsere diesjährigen Weihnachtsferien.
Normalerweise verbrachten wir ein paar Tage auf der Farm meiner Grossmutter. Ich ging dann meistens mit meinem Vater in den Wald, um einen Weihnachtsbaum auszusuchen, den wir fällten und nach Hause schleppten.
Meine beiden Tanten und mein Onkel waren auch da und ich wurde mit ansehnlich vielen Geschenken eingedeckt! Also alles in allem, Weihnachten bei meiner Grossmutter lohnte sich und war ziemlich unterhaltsam.
Aber vor ein paar Wochen hatte mir meine Mutter erklärt, dass wir für ein paar Tage in den Süden fliegen würden, um so richtig auszuspannen und bei schönem, warmem Wetter am Strand und an der Sonne zuverbringen.
Es war nicht das erste Mal, dass wir nach Florida reisten, aber bis jetzt war das noch nie während der Weihnachtenferien passiert. Ich fand die Idee super, aber zugleich stimmte sie mich auch etwas wehmütig. Das hiess im Klartext, keinen Weihnachtsbaum, keine Geschenke, keine heisse Schokolade am Kaminfeuer und keine lustigen Tanten, die mit mir Karten spielten und Unsinn machten.
Die Schulferien hatten begonnen und meine Eltern brachten mich für einen letzten Besuch vor der Abreise, zu meiner Grossmutter. In zwei Tagen würden wir in den Flieger steigen und Richtung Süden abdüsen.
Meine Mutter nahm sich nicht einmal die Mühe, aus dem Auto zu steigen. Sie war im Stress, sie musste noch so viel einkaufen, bevor die Reise losgehen konnte.
Also hielt sie vor dem Eingangstor in den Hof meiner Grossmutter an und liess mich aussteigen.
«Sei brav, mach keine Dummheiten, morgen vor dem Mittag komm ich dich wieder holen, ok.?»
Sie drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Ich nahm meinen Rucksack und stieg aus dem Wagen. Es war später Nachmittag und die Dämmerung begann bereits hereinzubrechen.
Als ich das Haus betrat, war es ungewöhnlich still. Die Räume lagen im Dunkeln und niemand war da. Nur Bensha, die Collie-Hündin, begrüsste mich aufgeregt.
«Hallo Bensha,» sagte ich und strich ihr über ihr langes, weiches Fell.
«Oma?» rief ich nun, aber im Haus blieb es still. Grossmutter war nicht hier, vielleicht war sie im Stall bei den Tieren.
Ich plazierte meinen Rucksack mit meinen Sachen auf dem Tisch und dabei erblickte ich einen Zettel auf dem stand geschrieben: «Bensha wird dir den Weg weisen ...»
«Was?» murmelte ich verwirrt vor mich hin. Das roch doch schon sehr nach einer Grossmutter-Idee.
Irgendwas war im Busch und ich sollte es herausfinden. Zumindest das erwartete ganz klar meine Grossmutter von mir.
Meine Augen suchten nach Bensha. Wie nicht anders zuerwarten, stand sie an der Türe und wollte offensichtlich nach draussen. Sie wedelte freudig mit dem Schwanz und mir war klar, dass sie die Verbündete in diesem Spiel war.
Ich stönte. Mir war wirklich nicht danach zu Mute, jetzt irgendeiner Aktivität ausserhalb dieses Hauses nachzugehen. Es war kalt, es hatte Schnee und in einer Stunde würde es stockdunkel sein. Dazu hatte ich mich eigentlich geistig bereits darauf eingestellt, an meinem Laptop zu gamen, bis meine Grossmutter das Abendessen vorbereitet hätte. Aber das konnte ich mir jetzt natürlich abschminken.
Also holte ich Benshas Leine damit sie mir nicht davon rennen konnte, denn sicherlich war sie so überfreudig, dass sie nicht auf mich warten würde und ich hatte wirklich keine Lust, nebst meiner Grossmutter auch noch nach Bensha suchen zu müssen.
Bensha zerrte mich an der Leine hinter sich her dem Wald entgegen. Heimlich hatte ich gehofft, dass unser Spaziergang schon im Stall oder irgendwo rund um den Hof enden würde, aber da hatte ich weit gefehlt.
Wir erreichten den Waldrand und Bensha war voller Energie. Sie schlug den breiten Waldweg ein, der uns direkt auf die oberen Wiesen des Grundstückes führen würde. Aber nach ein paar Minuten schwenkte sie nach rechts ein, wo wir nur noch einem schmalen Pfad folgen konnten.
Da es schon den ganzen Nachmittag leicht geschneit hatte, konnte ich keine Spuren ausmachen. So ein Mist! Das hätte mir doch wenigstens eine gewisse Befriedigung gegeben, wenn ich Omas Spuren im Schnee hätte folgen können. Aber alles war mit einer zarten, flockig luftigen Schneeschicht bedeckt.
Wir folgten dem Pfad ein paar Minuten, bis Bensha nochmals die Richtung wechselte und mich links weg durch schlecht begehbares Unterholz zerrte.
Bensha begann zu bellen und war offensichtlich ausser sich vor Freude. Nur ich hatte keine Ahnung, was denn so wunderbar sein sollte. Ich sah nichts als Tannenäste. Eine Jungtannenanpflanzung versperrte mir die Sicht.
Bensha wollte unten durch, aber dieses Mal war ich es, der an der Leine zog und gemeinsam umgingen wir die Bäume.
Als hätte ich die Dimension gewechselt, ergoss sich vor mir ein Schauspiel erster Klasse. Ich glaubte zu träumen! Ein Meer von Lichtern erhellte die kleine Lichtung im Wald, auf die wir hinaus traten. Ein Meer von Kerzen, die alle an einer grossen, stolzen Tanne befestigt waren, flackerten in den Himmel und liessen den Schnee in ihrer Nähe wie Diamantenstaub funkeln.
Ich war so überrascht von dem Spektakel, dass ich die grosse Feuerstelle rechts vom Baum gar nicht wahrnahm. Erst als Bensha freudig bellend nach rechts zog, erblickte ich meine Grossmutter, die auf einem Baumstumpf am Feuer sass und ohne irgendwelche Emotionen zu zeigen, einen Stecken mit Marshmallows ins Feuer hielt. Aber da war nicht nur meine Grossmutter. Nein, da sassen ja auch noch meine beiden Tanten Gwendolin und Yasmine. Sie alle waren damit beschäftigt, Marshmallows im Feuer zu rösten.
Meine Grossmutter hob den Kopf, als hätte sie erst jetzt gerade meine Präsenz wahrgenommen und fragte mich:
«Willst du auch ein Marshmallow?»
Meine beiden Tanten kicherten und begannen Witze zu machen.
«Heho, da ist er ja, unser Abenteuerer!» sagte Gwendolin.
«Na, da hab ich doch die Wette gewonnen,» fuhr sie fort «Vic hatte tatsächlich den Mut, sich bei Nacht und Nebel in den Wald lotsen zu lassen!» Gwendolin und Yasmine begannen beide laut zu lachen und ich sagte nur:
«Haha, sehr komisch!»
Ich konnte meine Augen nicht vom Weihnachtsbaum abwenden. Er war so ungewöhnlich schön, gross und stolz und lebendig, wie ich noch nie zuvor einen Baum gesehen hatte. Seine ganze Dekoration bestand nur ausschliesslich aus Lichtern, aber die in solch einer unglaublichen Anzahl, dass zählen sinnlos war. Ich fragte mich heimlich, von wo meine Grossmutter den Strom bezog, um diese unzähligen, elektrischen Lichter zu speisen. Und weil meine Grossmutter in meinen Gedanken lesen kann, empfand ich es nicht einmal als ungewöhnlich, dass sie mir auf meine Frage sofort eine Antwort gab.
«Ich habe die Batterie aus dem Pick-Up ausgebaut,» sagte sie ohne eine Miene zuverziehen. Dabei machte sie eine Bewegung mit dem Kopf Richtung Baumstamm und tatsächlich, da sah ich in Plastik gehüllt, die Autobatterie mit einem langen Kabel.
«Können wir nun endlich essen?» maulte Yasmine «nachdem ich den ganzen Nachmittag auf diesem Baum rumgeklettert bin, hab ich einen Bärenhunger!»
Grossmutter hatte eine Mahlzeit vorbereitet. Meine Lieblingsnudeln mit Käse, dazu über dem Feuer geröstetes Knoblauchbrot, eine riesige Schachtel mit selbstgemachten Weihnachtskeksen und ein paar Liter heisse Schokolade.
Wie wilde Wölfe fielen wir über die Nahrung her. Es war das beste Weihnachtsessen meines Lebens!
Die Nacht war längst hereingebrochen, als wir uns auf den Heimweg machten.
Der Mond war aufgegangen und erhellte die glitzernde Winterwelt. Lachend stapften wir durch den Schnee und Bensha rannte fröhlich voraus.