In meinem Zimmer bei meiner Grossmutter stand ein grosses Bücherregal. Ich schenkte ihm wenig Beachtung. Lesen war nicht gerade meine bevorzugte Leidenschaft. Meine Grossmutter erzählte mir einmal, dass dies die Bücher von Tante Yasmine seien, da sie, als sie noch ein Kind war, in diesem Zimmer geschlafen hatte.
Während der Sommerferien verbrachte ich eine ganze Woche bei meiner Grossmutter. Meine Eltern mussten an einen Kongress nach Toronto reisen und so brachten sie mich auf die Farm.
Der Tag hatte gut begonnen, obwohl es draussen in Strömen regnete und heftig windete. Ich amüsierte mich mit meinem Laptop und schaute mir während einer guten Stunde YouTube Videos an, während ich mich bereits auf den Schokoladenkuchen freute, den meine Grossmutter in den Ofen geschoben hatte.
Aber dann plötzlich brach meine Internet-Verbindung ab und nicht nur das, sondern der ganze Strom im Haus war weg. Meine Grossmutter seufzte.
«Ach nein, nicht schon wieder, der Wind muss wohl irgendwo die Stromleitung beschädigt haben, wer weiss, wie lange es dauert, bis das repariert ist!» sagte sie und schaute sorgenvoll in den Ofen, wo dem Kuchen die Hitze fehlte.
Zu dumm! Kein Internet, kein Kuchen, wie schnell konnte sich doch ein guter Tag in einen sehr schlechten wandeln!
Nach draussen gehen hatte auch keinen grossen Sinn. Das Unwetter hatte noch an Stärke zugelegt, selbst die Pferde waren von den Weiden zurückgekehrt, um Schutz im Stall zu suchen.
Ich wanderte etwas gelangweilt im Haus herum, wollte den Fernseher einschalten, bis mir in den Sinn kam, dass auch der vom Strom abhängig war.
Meine Grossmutter meinte:
«Warum liest du nicht ein Buch?»
Ein Buch! Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es im Haus meiner Grossmutter Bücher gab, die mich interessieren konnten.
Aber da ich nichts besseres zu tun hatte, ging ich in mein Zimmer, wo das grosse Bücherregal mit Tante Yasmines Büchern stand.
Die Auswahl war riesig. Auf zehn Regalen stappelten sich grosse, kleine, dicke und dünne Bücher.
Wahllos griff ich mir eines. Der Einband war schwarz und in goldenen Buchstaben stand geschrieben: «Was Kräuter-Hexen wissen sollten ...»
Ich begann etwas darin zu blättern und einzelne Absätze zu lesen.
Das Buch wendete sich offensichtlich an Frauen, die sich in der Heilkunst mit Kräutern auskannten. Wenig interessant für meinen Geschmack. Ich stellte das Buch zurück und nahm mir ein anderes.
«Der Wald und seine stillen Bewohner» hiess es. Das hörte sich schon interessanter an. Ich dachte einen Augenblick darüber nach, was wohl mit stillen Bewohnern gemeint war. Es stimmte zwar, dass es im Wald oft sehr still war, obwohl es doch von Tieren nur so wimmelte. Aber anderseits war es auch oft sehr laut, vorallem im Sommer, wenn die Vögel alle auf einmal zwitscherten. Aber nachdem ich einige Seiten des Buches gelesen hatte, wurde mir schnell bewusst, dass hier nicht Waldtiere gemeint waren, sondern Gestalten einer anderen Ebene. Nämlich Feen, Elfen, Zwerge, Gnome, Waldgeister und andere Figuren, sofern man daran glaubte.
Für mich waren das nichts als Märchengeschichten und so legte ich das Buch zur Seite. Als ich mich umdrehte, um im Bücherregal nach einem anderen zu suchen, stiess ich mit dem Ellenbogen an das stille-Bewohner-Buch, das ich achtlos auf der Kante des Bücherregals deponiert hatte und das Buch fiel zu Boden. Ich bückte mich, um es aufzuheben, dabei bemerkte ich, dass aus dem Buch ein gefaltetes Papier herausgefallen war und nun auf dem Boden lag. Ich hob es auf, um es in das Buch
zurückzuschieben und fragte mich, ob es ein Buchzeichen war und zwischen welchen Seiten es wohl gesteckt hatte. Aus purer Neugier faltete ich das Blatt auseinander und zu meiner Überraschung war es beschrieben. Jemand hatte in zierlicher, kleiner Schrift so etwas wie eine Liste erstellt.
Ich begann neugierig zu lesen. Die Worte machten keinen grossen Sinn. Es war klar, dass da jemand ganz persönliche Gedanken niedergeschrieben hatte, die man schwer verstehen konnte, wenn man nicht den Zusammenhang kannte.
Da standen Dinge wie «rechts herum nur einmal, dann links herum zweimal» oder «die erste Höhle taugt nichts».
Auf der Rückseite des Papiers fand ich dann aber etwas sehr Interessantes. Es war eine Art Plan oder Karte und je länger ich sie betrachtete, umso mehr hatte ich das Gefühl, dass mich die Zeichnung an irgend etwas erinnerte. Irgendwie kam mir das alles sehr bekannt vor, aber ich kam beim besten Willen nicht darauf, wo ich diese Skizze schon einmal gesehen hatte.
Ich behielt das Blatt Papier in meinen Händen und ging in mein Zimmer. Eigentlich wollte ich zuerst direkt zu meiner Grossmutter laufen, ihr die Zeichnung zeigen und sie fragen, was sie davon hielt. Aber dann zögerte ich plötzlich. Mit meiner Grossmutter war nicht immer zu spassen und manchmal reagierte sie unerwartet streng. Vielleicht würde sie mir die Zeichnung wegnehmen oder mir sagen, dass ich mich nicht um anderer Leute Dinge kümmern sollte.
Wenn meine Grossmutter von meinem kleinen Bibliothek-Abenteuer wüsste, hätte sie sicher gesagt, dass es keine Zufälle gäbe. Und so behielt ich das Blatt Papier wie einen kostbaren Schatz in meinen Händen. Ich wusste, dass ich früher oder später die Antwort auf meine Frage erhalten würde.
Manchmal dauern Dinge bedeutend weniger lang, als man sich das vorstellen kann. Ich ging zu meiner Grossmutter in die Küche zurück. Aber sie war nicht da. Ich fand sie im Salon, wo sie in ihrem Schaukelstuhl sass und gedankenversunken vor sich hin schaukelte.
«Hey Oma,» sagte ich und während ich das sagte, fiel mein Blick auf eine Photographie, die gerahmt direkt hinter meiner Grossmutter an der Wand aufgehängt war. Ich traute meinen Augen nicht. Das war es! Das war die Antwort auf meine Frage. Ich näherte mich meiner Grossmutter und starrte auf die Photogrpahie hinter ihr. Sie blickte auf und sah mich fragend an.
«Was hast du?» wollte sie wissen.
«Was guckst du denn?» Sie drehte den Kopf und sah auch auf die gerahmte Photographie.
«Das ist unsere Farm von oben,» sagte sie. «Hast du noch nie so richtig angeschaut? Gell?»
Ich nickte nur, ohne mich ablenken zu lassen. Das Photo hatte man wohl vor vielen Jahren aus einem Flugzeug gemacht. Die Details waren nicht sehr klar, aber man konnte in seiner ganzen Grösse das Anwesen meiner Grossmutter sehen. Die Gebäude als kleine Vierrecke, die Wege als hellbraune Linien, die verschiedenen Teile der Weiden und des Waldes, der Waldteich, der Teich an der Strasse, die Abgrenzung zum Nachbarn, sogar Pferde oder andere Farmtiere als kleine Punkte, waren auf dem Abdruck verewigt. Das Photo erinnerte mich an Google Maps. Aber wahrscheinlich hatte Google Maps zu der Zeit, als dieses Photo gemacht wurde, noch nicht existiert. Den Teil, der mich am meisten interessierte, war da, wo man die Wege im Wald verschwinden sah. Vorallem auf der linken Seite der Photographie, dort wo auch der Waldsee als grosses rundes, dunkelblaues Gebilde abgelichtet war, erkannte ich sofort die Skizze meines misteriösen Zettels wieder.
Auf meinem Zettel allerdings war ein rotes, kleines Kreuz eingezeichnet und ich war mir fast hundertprozentig sicher, dass ich wusste, wo das war. Ich hatte diesen Weg schon oft mit Bensha gelaufen. Er gehörte zu den eher kurzen Spaziergängen, die man als Rundgänge im Wald machen konnte. Ich hatte plötzlich unheimliche Lust, mit Bensha einen Spaziergang zu machen. Aber ich war mir sicher, dass mir meine Grossmutter das verbieten würde. Der Sturm und der Wind hatten bestimmt einige Bäume oder zumindest Äste im Wald zu Boden stürzen lassen und es war nicht unbedingt ratsam, bei solchem Wetter sich im Wald aufzuhalten, wenn man nicht von einem Baum erschlagen werden wollte.
Es verging noch fast eine Stunde, bevor wir wieder Elektrizität hatten und meine Grossmutter den Kuchen fertig backen konnte. Es war unterdessen Abend geworden und ich musste meinen Waldausflug auf den nächsten Tag verschieben.
In dieser Nacht schlief ich sehr schlecht. Draussen heulte immer noch der Wind und rüttelte an Grossmutters Holzhaus. Aber das war nicht der Grund dafür, dass ich schlecht einschlafen konnte und mehrere Male aufwachte. Der aus dem Buch gefallene Zettel und die Worte darauf drehte sich in meinem Kopf, wie auf einem Karussell und als ich dann endlich eingeschlafen war, träumte ich von komischen Dingen und komischen Wesen. Nichts, das mir Angst machte, aber Dinge, die mir vollkommen unbekannt waren.
Sonnenstrahlen weckten mich gerade nur ein paar Sekunden, bevor meine Grossmutter die Schlafzimmertüre aufriss, Bensha hereingaloppierte und auf mein Bett sprang und meine Grossmutter mit fröhlicher Stimme sagte:
«Aufstehen Faulpelz! Wir haben einen wunderschönen Tag vor uns.»
Bensha hatte unterdessen damit begonnen, mir das Gesicht abzulecken. Vergebens versuchte ich, mir die Bettdecke über den Kopf zu ziehen. Die Nacht war definitiv vorbei.
«Wenn ich dich wäre, würde ich mich beeilen. Ansonsten werden Bensha und ich alle Croissants alleine aufessen!» mit diesen Worten verliess meine Grossmutter das Schlafzimmer.
Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Ich war schlagartig hellwach. Es gab nichts besseres zum Frühstück, als Grossmutters hausgemachte Butterkipferl.
Während wir genüsslich frühstückten, wurde kein Wort gesprochen. Als wir gemeinsam den Abwasch machten, fragte mich meine Grossmutter, was ich heute vorhätte.
Ich wollte ihr nicht die ganze Wahrheit sagen und schon gar nichts von dem Zettel erzählen, den ich gefunden hatte. Also druckste ich ein bisschen herum:
«Ich mach einen Spaziergang mit Bensha, mal sehen, wie viele Bäume im Wald umgefallen sind.»
«Gute Idee!» sagte sie.
«Ich muss einkaufen gehen, der Kühlschrank ist leer», fuhr sie fort.
Das kam mir sehr gelegen, so konnte ich mich ungestört meinem Vorhaben widmen.
Zwanzig Minuten später rollte der Wagen meiner Grossmutter Richtung Ausfahrt. Als er in die Hauptstrasse einbog und davon fuhr, machte auch ich mich mit Bensha auf den Weg. Das bevorstehende Abenteuer machte mich ganz nervös und ich spürte in meiner Magengrube ein intensives Kribbeln, als ich Richtung Wald marschierte.
Bensha rannte etwas voraus, schnüffelte an jedem Baum und war sichtlich erfreut, dass wir so früh am Morgen bereits draussen unterwegs waren. Den Zettel aus dem Buch hielt ich fest in meinen Händen. Ab und zu hielt ich an, las noch einmal den stichworthaltigen Text durch, immer in der Hoffung, dass ich plötzlich eine unerwartete Eingabe hatte und mir eine innere Stimme den Sinn der Worte enthüllen würde. Aber ich konnte mir nachwievor keinen Reim darauf machen.
Ich hatte mir vorgenommen, den ungefähren Ort aufzusuchen, wo auf der Skizze ein rotes Kreuz angebracht war. Die Markierung befand sich etwas abseits vom Weg, an der Stelle, wo auf dem Plan eine leichte Kurve eingezeichnet war. Ich kannte mich gut mit den verschiedenen Krümmungen dieses Waldweges aus und war mir sicher, dass ich den genauen Ort finden würde, wo ich den Weg verlassen musste, um die eingezeichnete Stelle zu finden. Aber wonach musste ich Ausschau halten? Ich hatte keinen blassen Schimmer. Die Skizze war vor über 10 Jahren erstellt worden und in der Zwischenzeit hatte sich der Wald sehr verändert. Da waren neue Bäume gewachsen und alte umgefallen. In diesen zehn Jahren hatten wir bestimmt hundert solcher Stürme wie denjenigen von gestern gehabt und vielleicht war der Ort mit dem Kreuz gar nicht mehr wiederzuerkennen und schon gar nicht für jemanden, der nicht wusste, wonach er Ausschau halten sollte.
Der Morgen dieses wunderschönen Herbsttages war noch früh, aber es begann bereits warm zu werden und ich hielt an, um meine Jacke auszuziehen.
Nach weiteren zwanzig Minuten zügigem Marschieren kam ich endlich an die Stelle. Der Weg führte hier in einer leichten Kurve nach links, um dann steil anzusteigen.
Aber entsprechend der Markierung auf dem Papier musste ich jetzt den Weg verlassen und rechts weg querfeldein weitergehen. Vielleicht zweihundert Meter oder so, dachte ich und dann sollte ich eigentlich an die Stelle kommen mit dem roten Kreuz.
Je weiter ich ging, desto unwegsamer wurde der Boden und von einem speziellen Zeichen oder Merkmal weit und breit keine Spur. Ich überlegte bereits, wieder umzukehren und unverrichteter Dinge nachhause zu gehen, aber ehrlich gesagt, hatte ich etwas die Orientierung verloren und konnte nicht mehr mit Sicherheit sagen, in welche Richtung ich gehen musste, um auf den alten Weg zurückzufinden.
Entmutigt setzte ich mich auf einen vermoderten Baumstumpf und überlegte, was ich tun sollte. Bensha hatte sich neben mich gesetzt und blickte mich mit ihren grossen, dunklen Augen vertrauensvoll an.
«Na Bensha, ich glaube du musst mir den Heimweg zeigen, ich habe ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer, wie es weiter geht.»
Bensha blickte mich an und legte sich zu meinen Füssen nieder. Das war nicht unbedingt der Moment, um eine Pause zu machen, dachte ich. Aber ich streckte meine Hand aus, um ihr Fell zu kraulen.
In diesem Moment blitzte ein Lichtstrahl auf. Irgendetwas am Boden reflektierte die Sonne und blendete mich. Ich kniff die Augen zusammen und suchte zu meinen Füssen die Erde ab.
Da war es wieder, ein Licht, das aufblitze.
Keinen Meter von mir entfernt lag auf dem feuchten, moosigen Erdboden ein kleiner Stein. Eigentlich war es ein Kristall, zumindest sah er so aus. Ich hob ihn hoch und inspizierte ihn von allen Seiten.
Das war mehr als ungewöhnlich. Wie kam ein Kristall hier auf die Erde. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass erst vor Kurzen hier jemand anders als ich vorbeigekommen war und diesen Stein verloren hatte und mir gehörte er bestimmt nicht. Wenn er aber schon seit längerem hier gelegen hatte, dann wäre er bestimmt von der Erde überdeckt gewesen, von Staub und Schmutz überdeckt und nicht mehr so offensichtlich sichtbar, wie das der Fall war.
Ich stand auf und schaute genauer zu Boden und siehe da, da war noch ein anderer! Ein zweiter kleiner Kristall lag etwa abseits des ersten. Ich hob ihn auch auf. Mein Interesse war jetzt definitiv geweckt und ich fragte mich, wieviele Kristalle hier noch so rumlagen. Ob das etwas mit dem Papier und der Karte zu tun hatte? Mit jedem Schritt, den ich machte, fand ich einen weiteren Kristall. Nach wenigen Minuten hatte ich eine ganze Handvoll in meiner Tasche.
Ob es meiner Tante auch so ergangen war, als sie hier als Kind des Weges ging? Vielleicht war das gemeint mit dem Kreuz auf der Karte. Der Ort wo die Kristalle einfach so am Boden herumliegen! Anderseits war die Idee doch recht lächerlich. Schliesslich lagen mindestens zehn Jahre zwischen Tante Yasmines Spaziergang und dem meinigen und in dieser Ecke des Waldes verirrte sich sonst niemand.
Ich wollte mich gerade bücken, um einen weiteren Kristall aufzulesen, als ich eine kleine, feine Stimme vernahm, die mich vor Schreck zusammenzucken liess. Das war das letzte, was ich in meiner Situation erwartet hatte. Eine Stimme, die zu mir sprach.
«Hey du, steckst du dir immer Sachen in deine Tasche, die dir nicht gehören?»
Ich drehte meinen Kopf nach allen Seiten, aber ich konnte niemanden wahrnehmen.
«Hier bin ich!» sagte die Stimme wieder.
Nun erst bemerkte ich die kleine Gestalt, die auf dem breiten Ast eines Baumes sass und mich von oben her unverwandt anschaute.
Ich dachte, ich träume. Ich hatte noch nie eine so kleine Person gesehen. Man sieht ja ab und zu in der Stadt kleinwüchsige Menschen, aber diese Person stellte alles, was Grösse anbelangt, in den Schatten.
Sie war kleiner, als eine Puppe und als ich genauer hinschaute, bemerkte ich winzige Flügel, mit denen sie aufgeregt flatterte.
«Ohh!» das war das einzige Wort, was ich zustande brachte. Vielleicht begann ich nun definitiv zu haluzinieren. Vielleicht hätte ich eine Wasserflasche mitnehmen sollen, vielleicht hatte ich einen Flüssigkeitsmangel! Ich rieb mir die Augen und starrte wieder noch oben. Aber die kleine Gestalt sass immer noch unverwandt auf dem Ast.
«Da nützt alles Augen reiben nichts mein Lieber,» sagte sie, «du hast meine Kristalle gestohlen!»
«Wer bist du?» brachte ich mit heisriger Stimme heraus.
«Ich bin eine Elfe, eine Zwergelfe.» sagte das kleine Wesen.
Angestrengt versuchte ich mich auf den Inhalt des Buches, das ich aus dem Bücherregal meiner Tante genommen hatte, zukonzentrieren. War da von Zwergelfen die Rede gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern. Aber es blieb mir keine Sekunde, um weiter darüber nachzudenken, denn unvermittelt meldete sich eine zweite Stimme zu Wort:
«Es gibt keine Zwergelfen, sie ist nur eine Fee, eine Schmetterlingsfee, um genau zu sein.» Die Stimme gehörte zu einer Frau, die hinter dem Baum hervortrat und mich freundlich anlächelte.
Ich hatte das Gefühl, jeden Moment in Ohnmacht fallen zu müssen. Meine Beine fühlten sich wie Gummi an und ich liess mich langsam auf den vermoderten Baumstamm gleiten, auf dem ich eben noch gesessen hatte, bevor ich auf die Kristalle aufmerksam wurde.
«Und wer sind Sie?» krächzte ich mit leiser Stimme.
«Ich bin eine Elfe.» sagte die Frau.
Elfen, Zwergelfen, Feen, Schmetterlingsfeen … !!! Ich hatte grosse Lust, einfach nur aufzustehen und davon zurennen. Aber ich wusste nicht wohin.
«Hast du dich verirrt?» wollte die Frau mit mitfühlender Stimme wissen.
«Ich weiss nicht, ja, nein, ich hatte eine Karte, ich.. « Ich begann in meiner Tasche nach dem Papier zu suchen, um es der Frau zu zeigen.
«Hier, ich habe eine Karte, oder sowas ähnliches, darum bin ich hier.»
Die Elfe nahm die Karte in die Hand, schaute sie ein paar Sekunden an, drehte dann den Zettel um und lass die Notizen auf der Rückseite. Ein langes Lächeln glitt über ihre Lippen. Dann hob sie den Kopf und schaute mich interessiert an.
«Wer hat dir denn das geben?» wollte sie wissen.
«Niemand, ich meine, ich habe es gefunden. Ich glaube, es gehörte meiner Tante...» sagte ich hastig und verschluckte mich beinahe dabei.
«Deine Tante?» Die Elfe begann zu sinieren.
Da meldete sich die Fee zu Worte:
«Ich weiss, ich weiss!!» schrie sie beinahe und dabei wackelte sie noch viel nervöser mit den Flügelchen.
«Jetzt weiss ich auch woran mich dieser Bursche hier erinnert!» Sie blickte mich durchdringlich an.
«Das Mädchen, das vor ein paar Jahren in den Wald gekommen ist, sie hat mir auch meine Kristalle stehlen wollen!» Empört sah sie mich an.
«Das war meine Tante Yasmine,» sagte ich.
«Ah, jetzt ist alles klar!» fuhr die Fee triumpfierend fort, «liegt wohl in euren Genen, dass ihr Feen die Kristalle wegstielt!»
«Ich bin kein Dieb!» sagte ich aufgebracht. «und meine Tante sicher auch nicht! Vielleicht solltest du nicht einfach deine Dinge überall rumliegen lassen!» Die Fee machte mit ihrem winzigen Mund eine Schnutte und verschränkte beleidigt die Arme vor ihrer Brust.
«Hört auf euch zu streiten,» sagte die Elfe. Sie blickte mich lange und belustig an.
«Also du hast dieses Papier gefunden und bist auf die Suche gegangen, ist das so?»
«Ja genau!» sagte ich erleichtert.
«Und ich wollte gerne wissen, was es mit den Notizen auf der Rückseite des Papiers auf sich hat..» fügte ich schnell hinzu, bevor mich der Mut verliess.
«So, so, möchtest du gerne wissen..» Die Elfe las erneut den Text auf dem Zettel.
«Die Worte hab ich deiner Tante diktiert!» Meine Überraschung war riesig.
«Was bedeuten sie?» fragte ich fast atemlos.
«Du hast das Tor gefunden mein Kind.» sagte sie leise.
«Welches Tor?» wollte ich wissen.
«Unser Tor, das Tor unserer Welt, das uns mit eurer Welt verbindet!»
Ich war sprachlos. Von diesen magischen Toren hatte ich in dem Buch meiner Tante gelesen. Auch wenn ich das alles für puren Humbug hielt, fand ich es faszinierend.
«Und wo ist das Tor?» fragte ich leise.
«Da!» sagte die Elfe und machte eine halbe Drehung, so dass sie mit dem Gesicht gegen den Baum stand.
Der Baum! Dachte ich. Es ist der Baum. Dieser unglaublich riesige, alte Baum. Er fiel mir erst jetzt auf. Ich hatte ihn vorab gar nicht wahrgenommen, obwohl die Fee schon die ganze Zeit auf einem seiner Äste gesessen hatte. Es war ein Ahornbaum und soweit ich wusste, waren solche riesigen Ahornbäume, welche mindestens 3 Personen benötigten, damit sie mit den Armen umschlungen werden konnten, mehrere hundert Jahre alt. Als hätte die Elfe meine Gedanken gelesen, sagte sie mit ernster Stimme:
«Tausend, der Baum hat tausend Jahre auf dem Buckel!»
Das konnte ich schwerlich glauben.
«Ich glaube nicht, dass Ahornbäume so alt werden könnnen», wandte ich vorsichtig ein. Aber die Elfe begann nur schallend zu lachen.
«So, so, DU glaubst nicht!» sagte sie. «Nun denn, man sagt zwar, dass der Glaube Berge versetzen kann, aber in deinem Fall muss ich dich leider enttäuschen. Dein Glaube ändert nichts daran, der Samen dieses Baumes wurde vor tausend Jahren in die Erde gesteckt. Von einem deiner Art. Zum Zweck der Wiedervereinigung der Welten.»
Ihre Erklärung ging mir ein bisschen zu weit, aber der Baum interessierte mich brennend und so begann ich ihn von allen Seiten zu inspizieren. Ich musste zugeben, dass ich noch nie in meinem Leben einen solch monströsen Ahornbaum gesehen hatte. Der Baum hatte auf der hinteren Seite zwei Einschüsse, die sich wohl aus einer Verletzung der Baumrinde ergeben hatten. Ein Tor konnte ich allerdings nicht ausmachen.
«Wer den Baum findet und berührt, kommt automatisch in Kontakt mit der anderen Welt, sei es für uns mit der menschlichen Welt, oder sei es für euch mit der Welt der Mentalwesen. Und wer die Hand in die zweite Höhle steckt, wechselt die Frequenz! Aber das rate ich dir nicht an!» sagte die Elfe eindringlich.
«Aber ich habe den Baum nicht berührt!» wandte ich ein.
«Oh doch hast du!» schrie die Fee dazwischen.
«Als du hier angekommen bist, hast du dich gegen den Baum gelehnt!»
Tatsächlich, jetzt erinnerte ich mich. Die Fee hatte recht.
«Du hast recht», gab ich zu, «aber eigentlich wollte ich das alles gar nicht und kein Knochen kann wissen, dass diese Kristalle dir gehören!» ich atmete tief durch und fuhr fort, «aber eigentlich möchte ich jetzt gerne nach Hause, aber ich habe absolut keinen blassen Schimmer, in welche Richtung ich gehen muss.» mir war für ein paar Sekunden nach Heulen zu Mute, aber ich beherrschte mich.
Die Elfe lächelte freundlich.
«Das ist kein Problem, unsere Möchte-Gern-Elfe wird dir und deinem Hund den Weg zeigen!» sagte sie. Ach ja, Bensha! Ich hatte sie vollkommen vergessen. Ich blickte mich um und sah sie in ein paar Metern entfernt am Boden liegen und interessiert von einer Person zur anderen blicken. Offensichtlich hatte sie kein Problem mit der Präsenz von Feen und Elfen. Die Elfe fügte hinzu:
«Und sag Yasmine, dass sie auch heute noch sehr willkommen ist, wenn sie uns besuchen will. Also dann, ich muss jetzt weiter,» sagte sie. Und kaum hatte sie fertig gesprochen, löste sie sich in Luft auf. Ich war sprachlos.
«Glotz nicht so dumm!» sagte die Fee. «Ich hab auch nicht den ganzen Tag Zeit, einen notorischen Dieb durch den Wald zu führen!»
«Na dann ist ja gut,» erwiederte ich, «denn ich habe auch nicht den ganzen Tag Zeit, einer notorischen Lügnerin hinterher zu laufen!» So, das war raus, jetzt fühlte ich mich wohler.
Die Fee zuckte nur ungerührt mit den Schultern, spreizte ihre Flügel auseinander und begann Richtung Gestrüpp davon zu flattern.
«Komm schon!» rief sie.
Ich beeilte mich und stolperte hinter ihr her. Sie war so klein und zierlich, dass sie schwerlich zwischen den Ästen auszumachen war. Ich musste mich schon sehr anstrengen, um ihre Spur nicht zu verlieren.
Wir eilten für ein paar Minuten durch den Wald und plötzlich, von einem Moment zum anderen, stand ich wieder auf dem altbekannten Weg. Meine Augen suchten nach der Fee, aber ich konnte sie nicht mehr sehen. Dafür flatterte ein Schmetterling vor meiner Nase herum. Und als ich danke sagte und ich mich erinnerte, dass es vielleicht angebracht war, mich für die Kristalle zu entschuldigen, setzte sich der Schmetterling auf meine Schulter, hielt einen Moment inne und flatterte dann in die Höhen des Waldes hinaus und raus aus meiner Sicht.
Ich atmete tief durch und begann dem Pfad Richtung Farm zu folgen.
Bensha rannte fröhlich voraus, als wäre nichts gewesen.
Ich wusste nicht, wie lange ich weg gewesen war, aber meinem Gefühl zu urteilen, war nicht mehr als eine Stunde vergangen. Ich hatte etwas Hunger und Durst und freute mich auf ein Mittagessen, das mir meine Grossmutter bestimmt bald zubereiten würde.
Meine Grossmutter war im Garten, als ich eintraf. Sie sass am Boden und jätete Unkraut. Sie hob den Kopf und schaute mich freundlich an.
«So?» wollte sie wissen, «habt ihr beide einen schönen Spaziergang unternommen?»
«Ja Oma,» sagte ich gehorsam.
Und dann überlegte ich mir, ob ich meiner Tante Yasmine tatsächlich den Gruß der Elfe ausrichten sollte.