Mit vor Kälte steifen Fingern wischte Laire Erde von der eben ausgegrabenen Wurzel. Sie war nicht besonders groß, sah aber frisch und nicht beschädigt aus. Behutsam legte sie sie in den Rucksack zu den anderen.
„Wie viele wollen wir denn noch sammeln?“, fragte Samachou, die neben ihr halb motiviert in der Erde grub.
„So viele, wie wir bekommen können“, antwortete Laire. „Bald friert es, und dann wird das Graben noch schwerer.“
„Irgendwie sieht es nicht nach besonders viel aus.“ Craux musterte den Inhalt des Rucksack mit diesen Augen, in denen das Weiße blutrot unterlaufen war – Magieraugen, an deren Anblick Laire sich beinahe gewöhnt hatte, aber eben nur beinahe. „Ob das da reicht, um uns satt durch den Winter zu bringen?“
„Satt?“, fragte Laire. „Nein. Ich hatte vor, uns lebendig durchzubringen.“
Craux machte ein langes Gesicht und wandte sich an Samachou. „Das meint sie nicht so, oder?“
„Natürlich meint sie das so“, sagte Samachou. „Du willst mir doch nicht erzählen, dass Magier den ganzen Winter über genug zu Essen haben.“
„Äh, doch? Du sagst das, als wäre das ein unverschämter Luxus.“
„Ist es ja auch.“
„Samachou, du klingst wie eine von diesen grummeligen alten Frauen, die sich ständig beklagen, dass sie es früher viel schwerer hatten.“
Während die beiden sprachen, grub Laire allein weiter. Eine musste es ja tun. Craux konnte zwar kämpfen, aber keinen Champignon von einem Fliegenpilz unterscheiden, und Samachou war ein Kind, das Laire nicht von früh bis spät für irgendwelche Arbeiten einspannen wollte. Auch wenn das bedeutete, dass sie allein übrigblieb, um irgendwie dafür zu sorgen, dass sie alle am Leben blieben.
Samachou war Vollwaise und über das, was Craux passiert war, sprachen sie noch immer nicht. Auch wenn jeder von ihnen sein Päckchen zu tragen hatte, Laires wog zweifellos am leichtesten. Und dennoch – als sie am Vorabend ihr Orakel geworfen hatte, waren sämtliche Perlen auf einem Haufen zusammengerollt, erdrückend aufgetürmt rund um die Kugel, die das Ich darstellte. Sie brauchten Vorräte für den Winter. Sie brauchten einen festen Unterschlupf, ehe der erste Schnee fiel, weil sie dann unmöglich weiter im Zelt schlafen konnten. Beides wäre zumindest etwas leichter zu beschaffen gewesen, hätten sie sich nicht von bewohnten Orten fernhalten müssen, weil jeder Craux an den Augen ansah, dass er ein desertierter Magier war. Laire hatte vor, sie alle lebendig durch den Winter zu bringen, und sie hatte keinen blassen Schimmer, wie.
„Laire?“, fragte Craux.
Sie schrak auf. „Ja?“
„Wenn die Vorräte nicht reichen, könnte ich auch versuchen, ein paar Tiere zu fangen.“ Er zögerte. „Oder gibt es die im Winter nicht?“
„Die gibt es schon“, sagte Samachou. „Die lösen sich nicht in Luft auf, weißt du.“
„Sei nicht so frech.“
„Wilderei ist eine Straftat“, sagte Laire. „Aber da wir sowieso nicht vorhaben, uns von irgendwelchen Behörden erwischen zu lassen …“
Craux versteifte sich kurz.
„… sollten wir das im Hinterkopf behalten. Für Notfälle.“
„Ich hab noch eine“, meldete Samachou und zerrte an einer Wurzel, die etwas zu fest im Boden steckte. „Die sieht echt groß aus.“
„Lass mich mal“, sagte Craux und ging neben ihr in die Knie. „Du zerreißt sie.“
„Und du kennst dich besser aus oder was? Du weiß nicht mal, wie Birnen wachsen.“
Laire sah zu, wie sie gemeinsam an der Wurzel herumbuddelten, und gegen ihren Willen musste sie lächeln. Vielleicht war es arrogant, so zu tun, als müsste sie ganz allein für ihr Überleben sorgen. Sie waren zu dritt. Es war nicht so, als würde irgendjemand von ihnen sein Päckchen allein tragen.