Den Stift hatte Craux aus demselben Schulgebäude gestohlen wie die Fibel. Die Fibel fand Samachou ziemlich anständig, weil man damit Buchstaben lernen konnte. Den Stift hatte bis jetzt eigentlich nur Craux benutzt, um ihr eine Landkarte in den hinteren Einband des Buchs zu zeichnen. Samachou selbst machte noch immer zu viele Fehler bei den Buchstaben, malte den Bommel an die falsche Seite vom d und so, und sie hatten ja nicht unendlich viel Papier.
„Aber irgendwann musst du mal lernen, wie man einen Stift festhält“, sagte Craux mit einem Anflug von Verzweiflung.
Samachou hob den Stock, mit dem sie ihre Buchstaben stattdessen in den Waldboden ritzte. Der Waldboden war gut, da war Platz. „Ich kann den Stock halten und damit schreiben. Schwieriger kann das mit einem Stift ja nicht sein.“
„So hält man keinen Stift!“ Er fuhr sich mit beiden Händen über den Schädel. „Hör mal, vielleicht könntest du versuchen, deinen Namen in die Fibel zu schreiben. Den kannst du ja jetzt.“
„Den konnte ich sogar schon, bevor du angefangen hast, mir schreiben beizubringen.“
„Konntest du nicht.“
„Wohl.“
„Moment, Moment“, sagte Laire. „Wieso soll Samachou ihren Namen in dieses Buch schreiben, als würde es ihr gehören?“
„Na ja, vielleicht gehört es mir ja“, sagte Samachou. „Ein bisschen.“
„Aber hat Craux nicht immer betont, dass es nur ausgeliehen ist?“
„Das stimmt“, sagte Craux. „Aber …“
„Aber irgendwie hast du vergessen, es wieder zurückzubringen?“
„Ich meine, mittlerweile ist das Buch ziemlich mitgenommen, nachdem wir es so viel durch den Wald geschleppt haben. Und außerdem habe ich unter Umständen vergessen, aus welchem Ort ich es damals gestohlen habe. Geliehen, meine ich.“
„Meinst du das ernst?“, fragte Samachou. „Ich dachte, Magier hätten Orientierungssinn! Du hast mir eine Karte gezeichnet!“
„Na, jedes Dörfchen in Farindou kenne ich jetzt auch nicht.“
Laire verdrehte die Augen. „So etwas musste ja kommen.“
„He, wir sind sowieso alle Verbrecher“, sagte Craux. „Samachou hätte längst eingezogen werden sollen, und du hast … keine Ahnung, du steckst jedenfalls mit uns unter einer Decke. Da macht so ein kleiner Diebstahl wirklich keinen Unterschied mehr.“
„Es geht mir nicht darum, ob wir wegen der Fibel verhaftet werden. Es geht mir um unsere Integrität.“
„Was ist Integrität?“, fragte Samachou.
„Sowas wie Anstand“, sagte Craux. „Aber das brauchst du dir nicht zu merken, denn wenn man Laire fragt, haben wir so etwas sowieso nicht.“
„Craux, wir versuchen hier, ein Kind aufzuziehen“, sagte Laire streng. „Irgendwelche Werte müssen wir ihr ja mitgeben.“
„Ich habe genug Werte“, sagte Samachou. Das fand sie wirklich. Craux hatte so oft Angst, und er verteidigte Laire und sie trotzdem, was doch ein starkes Stück war. Und Laire suchte den gesamten Wald nach Horkbeeren ab, weil die ein wenig halfen, wenn Samachou morgens wieder einmal Schmerzen in der Schulter hatte, die sie sich damals gebrochen hatte. Das genügte ja wohl an Werten.
Gedankenverloren schrieb sie ihren Namen auf den Boden, zögerte dann und verwischte ihn mit dem Fuß wieder. Sie hätte längst eingezogen werden sollen, hatte Craux gesagt, und darüber dachte sie lieber nicht nach, weil es ihr Angst machte. Es fühlte sich besser an, wenn sie so wenige Spuren hinterließ wie möglich. Da war es sicher auch besser, wenn niemand ein gestohlenes Buch mit ihr in Verbindung bringen konnte.