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Nach dem Prompt „Karpfen“ der Gruppe „Crikey!“
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Am Ufer eines Sees, unter den sonnenbeschienen Zweigen wilder Oliven, saß ein Mann und hielt die Angel ins Wasser. Er wartete schon eine geraume Weile, vornübergebeugt und gelangweilt, als ein Ruck durch die Angel ging.
Sofort saß der Alte kerzengerade und stemmte sich in die Angel. Er drehte und winkelte den Stock, holte die Schnur Stück für Stück ein, aber mit einer gewaltigen Kraftanstrengung. Endlich kam der Kopf des Fisches in Sicht, ein großer Karpfen, länger als ein Mann. Der Alte atmete auf, als seine Beute so nah war.
Da riss die Angel und der Fisch floh in die Tiefen des Sees.
Am nächsten Tag kehrte der Fischer wieder. Er hatte eine neue, weitaus stärkere Angel dabei, Netze und Speere und alles, was er brauchte. Wieder warf er die Angel aus und saß lange Zeit am Ufer. Doch er war erschöpft. Wieder und wieder sackte ihm der Kopf auf die Brust, und dann wurde er mit einem Ruck wieder wach und murmelte halb im Traum: "Ich muss ihn fangen."
Es wurde Abend, ohne dass etwas geschah, und der Fischer holte die Angel ein. Da sah er, dass der Fisch den Köder klammheimlich und sehr vorsichtig vom Haken gezupft hatte, ohne dass der Alte ihn bemerkt hätte.
Und wieder ging er mit leeren Händen.
Am dritten Tage nun hatte er einen neuen Köder dabei, und stärkere Haken, und diese warf er in die Fluten des großen Teichs. Müde Schatten lagen unter den Augen des Alten, doch er hielt den Blick auf die Angel gerichtet. Schließlich näherte sich der Karpfen, und diesmal schluckte er den Haken. Wie am ersten Tag zog der Fischer ihn ein, und die Schnur riss nicht. Lang und kräftezehrend war der Kampf der beiden, doch schließlich erschlaffte der Karpfen und der Fischer konnte den riesigen Fisch ans Ufer ziehen.
Es war ein prächtiger Fisch mit silbernem Schuppenkleid, und viele der Schuppen spiegelten die Welt um sie herum wie poliertes Silber.
Als aber der Fisch an Land war, schlug er plötzlich kräftig mit der Flosse, wirbelte herum und durchtrennte das Seil der Angel mit einem starken Hieb. Es folgte ein großer Platscher, und der Karpfen war zurück im Wasser.
Weinend sank da der alte Fischer auf die Knie. Alles Angelgerät ließ er fallen.
"Warum weinst du?", fragte ihn der große, silberne Spiegelkarpfen aus dem Wasser. Der Fischer sah auf und fand sich dem großen Gesicht des Fisches direkt gegenüber. "Du hast doch keinen Grund für Tränen, nur weil ich dir entkam, wo du es doch bist, der mir nach dem Leben trachtet!"
"Ich trachte nicht nach deinem Leben, oh großer Karpfen!", widersprach der Alte, ganz erstaunt, dass der Fisch reden konnte. "Ich möchte es verschonen, wie in den alten Geschichten. Es heißt, in diesem See lebt ein Fisch, der mehr als hundert Jahre alt ist. Wer ihn fängt und verschont, dem gewährt er einen Wunsch."
"Ich bin jener Fisch, doch deine Legenden stimmen nicht, alter Mann", sprach der Karpfen. "Niemand hat mich je gefangen, und doch gewähre ich Wünsche, wenn ich es möchte. Es braucht nur eine Bitte, mehr nicht, und ein Blick in eine meine spiegelnden Schuppen. Sie werden dir die Welt zeigen, die du zu sehen begehrst, und dann verblassen."
"So einfach ist es?", fragte der Alte erfreut.
"Nicht ganz", widersprach der Fisch. "Ich gewähre Wünsche nur, wenn ich es möchte. Doch du, der du mich seit drei Tagen jagst, du verdienst kein Gold und kein langes Leben, und nichts sonst, was du dir wünschen könntest."
Der Karpfen wollte sich abwenden, doch der alte Mann streckte die Hand aus. "Warte, oh großer Karpfen. Bitte höre mich an!"
Der Fisch schwamm weiter.
"Ich gebe dir in jedem Punkt recht. Ich hätte darum bitten sollen, statt mich auf Geschichten zu verlassen. Und ich bitte dich weder um Gold noch um ein langes Leben, wahrlich, ich selbst möchte gar nichts von dir."
Nun hielt der hundertjährige Karpfen doch an und wandte sich um. "Was möchtest du dann?"
"Meine Tochter ist sehr krank", sprach der alte Mann. "Oh größter aller Fische, ich bitte dich nur um ihretwillen. Schenke ihr Gesundheit. Jeden Preis werde ich zahlen, den du für angemessen hältst, um diese Schuld abzuzahlen."
"Es gibt keine Schuld, wenn ein Wunsch gewährt wird", sagte der Karpfen und kam wieder näher. Er schwamm vor den alten Mann. "Sieh in meine Schuppe, genau dort."
Der Fischer sah und erblickte wie in einem Spiegel sein eigenes Gesicht. Dahinter sah er jedoch nicht den Olivenhain, sondern seine Hütte und dahinter, völlig gesund und fröhlich lächelnd, ein junges Mädchen.
Dann senkte sich ein milchiger Nebel über das Bild. Der Alte blinzelte und stellte fest, dass er in ebenjener Hütte saß und aus dem Fenster sah. Er wandte sich um und ein ungläubiges Lächeln trat auf seine Lippen.