Rating: P12
Nach dem Prompt „Wanderalbatros“ der Gruppe „Crikey!“
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Auf dem Boot wurde nicht gesprochen. Von Kindesbeinen an kannte Phrixos die ungeschriebene Regel. Wenn er mit seinem Vater hinaus auf das Meer fuhr, durfte kein Wort mehr gesprochen werden. Sonst warf ihm dieser große, finstere Mann einen mahnenden Blick zu, der den Jungen verstummen ließ.
Alles, was sie auf diesem Boot gesprochen hatten, ließe sich in einer Viertelstunde zusammenfassen - lächerlich wenig für die fünfzig Jahre, die Phrixos seinen Vater nun schon begleitete. Solon lehrte seinen Sohn, wie man die Angel auswarf und die gefangenen Fische tötete. Gesprochen wurde nur, wenn Phrixos einen falschen Köder auswarf oder über den Rand zu kippen drohte, doch selten mehr. Hatte er eine Frage, etwa, welchen Köder er verwenden sollte, so hielt er diesen wortlos hoch und sein Vater nickte entweder oder reichte ihm den richtigen.
An Land sprach Solon viel, doch trotzdem lernte Phrixos sehr viel mehr über ihn, wenn sie schweigend im Boot saßen, die Angeln auf den glatten Spiegel des Meeres geworfen. Oft beobachteten sie hier den Sonnenaufgang, ohne ein einziges Wort zu wechseln, ganz versunken in das Farbenspiel und die ziehenden Wolken, die sich im Wasser spiegelten.
Hier lernte Phrixos die Magie seines Vaters kennen. Er besaß ein seltenes Talent, denn er konnte die Wellen beruhigen, indem er mit der Hand darüberstrich. Für diese Fähigkeit wurde er sehr bewundert, doch er erwähnte sie nie, als wäre es ihm unangenehm. Beim Angeln jedoch nutzte er sie, wann immer das Meer ihr kleines Boot zu schaukeln drohte.
Es war eine Kraft, mit der er auf großen Schiffen angeheuert worden wäre, um diese bei Stürmen zu schützen. Eine Fähigkeit, die sie reich gemacht hätte. Doch er hatte sich aus dieser Welt zurückgezogen und fuhr stattdessen auf das Meer hinaus, wie ein Fischer, als müsste er damit noch seinen Lebensunterhalt verdienen.
Phrixos wurde nie gefragt, er kam einfach mit. Nur selten hatte er das Angeln versäumt. Es gehört zu seinem Leben wie das Abendessen und das Lernen.
Wie so oft kam ein Schatten aus dem Himmel herab. Ein Albatros. Um diese Jahreszeit waren sie zahlreich, weil sie von ihren Brutinseln zurück auf die offene See flogen.
Vater nahm einen Fisch aus dem Fang und warf ihn in die Luft. Der große Vogel glitt elegant herab, schnappte sich die Beute und hob wieder ab, in einer fließenden, eleganten Bewegung, wie ein Boot auf den Wellen tanzte.
Phrixos sah dem Albatros lächelnd nach. Ein Jungtier, das vielleicht zu seinem ersten Flug aufbrach. Doch von hinten nahten nun bereits einige weitere Vögel, die gesehen hatten, dass es Beute gab. Und all der Fisch, den sie mühsam gesammelt hatten, ging an die Vögel.
Phrixos ärgerte sich manchmal darüber. Er würde gerne einen Teil der Beute behalten. Doch als er Vater vor einigen Jahren einmal danach gefragt hatte, hatte dieser nur geantwortet, dass sie den Fisch nicht brauchen würden - die Vögel dagegen sehr wohl.
"Sie sind sehr selten geworden", hatte seine Mutter ihm später erklärt. "Sie finden nicht mehr viele Brutplätze und dann verhungern die Jungen oft, weil die Fischer sie verscheuchen. Dein Vater kann sich das nicht mit ansehen, er will helfen."
Woher sie die Gewissheit nahm, dass Solon solch ein goldenes Herz hatte, wusste Phrixos nicht. Sein Vater erschien ihm immer wie ein Fremder. Es lag daran, dass er mit allen Leuten in seinem Leben so viel mehr gesprochen hatte als mit seinem Vater. Sie verbrachten Stunden zusammen, aber Phrixos wusste nie, woran sein Vater dachte.
Die Albatrosse flogen weiter, kleinere Vögel an der Seite ihrer Eltern, die ihnen den Weg wiesen, hinaus in die Freiheit über der endlosen See. Phrixos sah ihnen mit einem wehmütigen Gefühl nach. Fliegen musste ein wunderbares, wenn auch beängstigendes Gefühl sein. Es wirkte, als könnten die Vögel bis zur Sonne aufsteigen, und dicht über den Wellen mit der Gischt spielen.
Sein Vater beugte sich hinab und strich über das Meer, und wie man eine Matratze bezog und das Laken glattstrich, glättete er die See.
Dabei waren die Wellen nicht hoch gewesen und ganz sicher nicht störend beim Fischen. Dennoch strich sein Vater sie immer wieder weg, mit dieser Kraft, die er an Land vor allen verbarg.
Phrixos wagte es, das Schweigen zu brechen. Leise sagte er: "Du musst das nicht immer tun."
Sein Vater drehte sich langsam zu ihm. Phrixos erwartete einen finsteren Blick, weil er gestört hatte. Doch stattdessen antwortete Solon sogar, mit seiner gewichtigen, schweren, dunklen Stimme.
"Bei deiner ersten Bootsfahrt ... bist du seekrank geworden."
Das war alles. Dann saßen sie wieder im Boot, Vater und Sohn, und warfen schweigend die Angelruten aus. Nur hatte sich der Ton der Stille zwischen ihnen nun nachhaltig verändert.