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Nach dem Prompt „Mimik-Oktopus“ der Gruppe „Crikey!“
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Corra schluckte schwer, als sie die gähnende Öffnung der Höhle vor sich erblickte. Auf einmal war sie sich ihrer Sache gar nicht mehr so sicher. Vielleicht sollte sich doch umkehren ...?
Unsicher warf sie einen Blick zum Grabenwall. Die steinerne Wand der tiefen Schlucht erhob sich steil in ihrem Rücken. Kaum Sonnenstrahlen vermochten, in die Finsternis der Spalte vorzudringen, deren gezackte Ränder sich auf dem sonst so flachen Sandfeld auftaten.
Zweifelnd wog Corra ab, ob sie nicht wieder hinaufschwimmen sollte. Das Wasser in dieser Tiefe war eisig kalt. Den rauen Boden konnte sie kaum noch erahnen, und hier unten wuchsen auch keine der bunten Korallen ihrer Heimat.
Nachdenklich glitt ihre Flosse durch die kalte Strömung, und ihre krausen Haare bauschten sich wie ein Ring um ihr Gesicht.
Nein, entschied sie dann. Oben warteten nur ihre Freunde. Aalyn würde sie noch in Jahren damit aufziehen, wenn sie jetzt einen Rückzieher machte.
Entschlossen wirbelte die orangehäutige Meerjungfrau herum und fixierte das gähnende Loch. Mit einem kräftigen Schlag der Flosse stieß sie sich vorwärts.
Das letzte Licht wurde ausgelöscht, als ihre kurze, weißgeringelte Flosse mit dem schwarzen Streifen am äußeren Rand in den Eingang glitt. Das Meerwasser wurde noch eine Spur kälter, schien sich in ihre Kiemen zu beißen, wann immer es hindurchströmte. Ängstlich hatte Corra die Hände vor dem Brustbein gefaltet, so eng, dass sie die empfindlichen Schwimmhäute eindrückte. Mit großen Augen sah sie sich um, ohne viel erkennen zu können.
"H-hallo?"
"Wer ist da?", zischte eine Stimme, so eisig wie die Fluten ihres Reichs. Corra schrie auf.
"Ich ... ich wollte nicht stören", brachte sie bibbernd hervor.
"Oh doch, das wolltest du." Die Stimme war mit einem Mal hinter ihr. Corra wirbelte herum und sah für einen kurzen Moment, wie ein großer Schatten das schwache Licht verdeckte, das durch den Eingang hereinschimmerte. "Das hier ist doch eine eurer Mutproben, nicht wahr?"
"E-es ... tu-tut mir wirklich l-leid ..."
"Dann sag mir, Laichling ... war es deinen Mut wert?"
Die Stimme war wieder vor Corra und schien sich zu entfernen, als wäre ihr Urheber gerade noch dicht vor ihrem Gesicht gewesen. Im gleichen Moment leuchteten jedoch mehrere Perlen an den Wänden der Höhle auf, als sich die Muscheln in einer Strömung öffneten. In diesem blassen Schimmer erkannte Corra dicke, dunkle Algen, die an den Wänden eines unregelmäßigen Tunnels wuchsen, der wie die versteinerten Reste einer gewaltigen, riesigen Koralle erschien.
Doch für ihre Umgebung hatte sie wenig Bewunderung übrig, da sich ihr Blick instinktiv auf das Wesen richtete, das ihr gegenüberschwamm. Es war ein schwarzweiß gestreifter Fisch, zwar riesig, aber nicht halb so furchteinflößend, wie es in den Legenden hieß. Sie stieß Wasser durch die Kiemen und entspannte sich. "Du bist die grausige Hexe der Tiefe?"
Der Fisch drehte den Kopf, wozu er den ganzen Körper in eine enge Kurve brachte, die eigentlich seine Wirbelsäule hätte brechen müssen. Doch er schien unverletzt, als er sich nach dem kurzem Umblicken wieder zu Corra ausrichtete. "Siehst du hier noch eine Hexe?"
"N-nein ... Aber du bist so ..."
"Wenig furchteinflößend?", half der Fisch aus - und zerfiel in lange Streifen.
Corra schrie entsetzt auf, als sich die Haut vom Fischleib schälte. Dann kniff sie die Augen fest zusammen, weil sie den Anblick seines Innenlebens nicht ertragen hätte. Doch der erwartete Geschmack von Blut oder eine warme Wolke, die über ihre Haut strich, blieben aus, und so blinzelte sie vorsichtig.
Keine Spur war von dem rätselhaften Wesen geblieben. Nein, das stimmte nicht - Corra bemerkte eine besonders große Ansammlung von Algen, die sie vorher an der Stelle nicht gesehen hatte. Vorsichtig schwamm sie näher. Jedes einzelne der neun Blätter der Alge war so groß und dick wie sie. Nein, es war unmöglich, dass sie die Pflanze übersehen hatte.
Mit fest angelegten Kiemen schwamm sie nah an der Decke über die Alge und sah in die Mitte der langen Arme. Kurz erhaschte sie einen Blick auf eine Art große Kugel im Inneren und drei blinzelnde Augen, ehe eine dunkle Wolke Tinte aufstieg und sie hustend zurückweichen ließ.
Als sich der dunkle Schatten verzogen hatte, hing ein großer Steinklumpen direkt vor ihr von der Höhlendecke und drei Augen, so groß wie ihr Kopf, starrten sie an. "Du bist ja immer noch da."
"Was ... bist du?", fragte die Meerelfe, allen Mut zusammennehmend.
"Momentan bin ich vor allem erstaunt", antwortete die Hexe. "Jeder andere hätte schon längst die Flucht ergriffen. Hast du etwa doch etwas Mumm in den Knochen, Mädchen?"
Corra streckte den Rücken tapfer und fächerte ihre drei Flossen auf. "Ich habe keine Angst."
"Du hast kein Talent zum Lügen, das ist alles, was du hast." Das Wesen schnaubte und glitt langsam von der Wand. Es sah zwar aus wie ein Stein, aber sein Körper war ganz offensichtlich sehr viel weicher und konnte sich in jede Lücke des Felsens schmiegen. Dann wuchs die Gestalt langsam vor ihr in die Höhe. "Ich bin Thamorra. Die Hexe der Tiefe." Überall auf dem großen Leib des Wesen, der sich nun schwarz färbte, leuchteten winzige, blutrote Pünktchen auf. "Und ich will meine RUHE!"
Die Muscheln an den Wänden klapperten, als ein gewaltiger Strömungszug durch den Tunnel rauschte und Corra mit sich zog, während die Hexe den Gewalten scheinbar mühelos trotzte.
Schreiend wurde die geringelte Meerelfe zurück in den Graben gespült. Sie nahm die Flosse in die Hand und schwamm so schnell sie nur konnte wieder nach oben. Corra hielt erst an, als sie die von Sonnenlicht durchtränkten Sandfelder über der Schlucht passierte und die bunten Korallen ihrer Heimat erblickte.
"Corra!", rief Aalyn und schwamm auf sie zu. "Geht es dir gut?"
Die beiden Freundinnen fielen sich in die Arme. Verwundert stellte Aalyn fest, dass ihre Freundin zitterte.
"Du hast sie gesehen! Die Hexe! Wie sieht sie aus?"
"Ich ... ich ... ich kann es nicht sagen", stammelte Corra.
"Das darf doch nicht wahr sein!", rief Aalyn wütend. "Wir haben gesagt, wir finden es heraus."
Corra schüttelte nur stumm den Kopf.
"Ist ja auch egal." Aalyn ergriff ihre Hand und zog sie mit sich. "Bringen wir dich in wärmere Gewässer."